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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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konnte.
    »Entschuldigen Sie«, sagte die Kellnerin. »Ich würde gerne plaudern, aber ich habe Kunden, die auf ihr Frühstück warten. Entschuldigen Sie …«
    Er ging die Treppe zu seinem Büro hinauf, und auf seinem Schreibtisch lagen noch die alten Karten, die er gestern studiert hatte, um auszumachen, wo genau sich der erste Friedhof des Landkreises befunden hatte (seiner Meinung nach seit 1839 aufgelassen). Er machte das Licht an und setzte sich hin, aber er merkte, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Nach der Zurechtweisung der Kellnerin – oder dem, was er für eine Zurechtweisung hielt – war es ihm unmöglich gewesen, sein Frühstück zu essen oder seinen Kaffee zu genießen. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen, um sich zu beruhigen.
    Aber statt in gewohnter Manier fürbass zu gehen, Leute zu grüßen und mit ihnen ein paar Worte zu wechseln, merkte er, dass die Worte nur so aus ihm heraussprudelten. Sobald jemand ihn fragte, wie es ihm an diesem Morgen ging, begann er in höchst uncharakteristischer, sogar beschämender Weise sein Leid zu klagen, und wie die Kellnerin hatten diese Leute etwas zu erledigen, und sie nickten und traten von einem Bein aufs andere und brachten Entschuldigungen vor, um wegzukommen. Der Morgen wollte nicht wärmer werden, wie es neblige Herbstmorgen sonst taten, sein Jackett war zu dünn, und er suchte Trost in den Geschäften.
    Diejenigen, die ihn am längsten kannten, waren am stärksten befremdet. Sie hatten ihn nie anders als reserviert erlebt – ein Herr mit tadellosen Manieren, dessen Gedanken bei anderen Zeiten weilten und dessen Höflichkeit nichts war als eine gewandte Entschuldigung für seine privilegierte Stellung (was nicht unkomisch war, denn diese privilegierte Stellung existierte hauptsächlich in seinen Erinnerungen und war für andere nicht erkennbar), Er war der Letzte, von dem man erwartet hätte, dass er seinem Kummer Luft machte oder um Anteilnahme bat – er hatte es nicht getan, als seine Frau starb, und nicht einmal, als seine Tochter starb –, doch nun holte er irgendeinen Brief hervor und fragte, ob es nicht eine Schande sei, wie dieser Kerl ihm immer wieder das Geld aus der Tasche zog, und sogar jetzt, kaum dass er sich einmal mehr seiner erbarmt hätte, habe der Kerl mit seiner Haushälterin gemeinsame Sache gemacht, um die Möbel zu stehlen. Manche dachten, dass er von seinen eigenen Möbeln redete, und glaubten, der alte Mann stehe in seinem Haus ohne ein Bett oder einen Stuhl da. Sie rieten ihm, zur Polizei zu gehen.
    »Das bringt nichts, das bringt nichts«, sagte er. »Wie soll man ein Herz aus Stein erweichen?«
    Er ging in die Schuhmacherei und begrüßte Herman Shultz.
    »Erinnern Sie sich noch an die Stiefel, die Sie mir neu besohlt haben, meine Stiefel, die ich in England gekauft habe? Sie haben sie vor vier oder fünf Jahren besohlt.«
    Der Laden war wie eine Höhle, mit abgeschirmten Glühbirnen über verschiedenen Arbeitsplätzen. Er war entsetzlich schlecht belüftet, aber seine männlichen Gerüche – nach Leim und Leder und Schuhcreme und frisch zurechtgeschnittenen Filzsohlen und verschimmelten alten – waren für Mr McCauley tröstlich. Hier tat sein Nachbar Herman Shultz, ein bleicher, bebrillter, erfahrener Handwerker mit gebeugten Schultern, jahrein, jahraus seine Arbeit – schlug Eisennägel und Nietnägel ein und schnitt mit einem böse gekrümmten Messer aus dem Leder die gewünschten Formen aus. Der Filz wurde mit etwas geschnitten, was an eine winzige Kreissäge erinnerte. Die Poliermaschine machte ein scharrendes Geräusch, und das Schmirgelpapierrad schnarrte, und der Schleifstein sirrte wie ein mechanisches Insekt, und die Nähmaschine hämmerte auf das Leder mit ernstem Industrierhythmus ein. Alle Geräusche und Gerüche und exakten Tätigkeiten an diesem Ort waren Mr McCauley seit Jahren vertraut, aber von ihm noch nie im Einzelnen bemerkt oder gar bedacht worden. Jetzt richtete sich Herman in seiner altersschwarzen Lederschürze mit einem Schuh in der Hand auf, lächelte, nickte, und Mr McCauley sah das ganze Leben des Mannes in dieser Höhle. Er wollte ihm sein Mitgefühl ausdrücken oder seine Bewunderung oder etwas Höheres, das er nicht verstand.
    »Doch, ich erinnere mich«, sagte Herman. »Das waren schöne Stiefel.«
    »Gute Stiefel. Wissen Sie, ich habe sie auf meiner Hochzeitsreise gekauft. Ich habe sie in England gekauft. Ich komme nicht mehr drauf, wo, aber es war nicht in
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