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HHhH

HHhH

Titel: HHhH
Autoren: Binet Laurent
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endlich Gabčik. Wie sagt man noch? Ich versetze mich voll und ganz in meine Figur hinein. Ich sehe mich Arm in Arm mit Libena durch die Straßen des befreiten Prags schlendern, die Menschen um uns herum lachen, sprechen Tschechisch und bieten mir Zigaretten an. Wir sind verheiratet, sie erwartet ein Kind, ich wurde zum Offizier befördert, Präsident Beneš wacht über die wiedervereinte Tschechoslowakei, Jan und Anna besuchen uns in ihrem nagelneuen Škoda, er trägt seine Schirmmütze verkehrt herum, zusammen gehen wir in einer kaviareň am Flussufer ein Bier trinken und rauchen dazu englische Zigaretten. Während wir an die Zeiten des Kampfes zurückdenken, müssen wir immer wieder schallend lachen. Weißt du noch in der Krypta? Mensch, war es dort kalt! Wir verbringen den Sonntag am Flussufer, ich umarme meine Frau, Jozef ist gerade dazugestoßen, auch Opálka hat sich mit seiner Verlobten aus Mähren, von der er uns so viel erzählt hat, zu uns gesellt, auch alle Moravecs sind da, der Oberst bietet mir eine Zigarre an, Beneš bringt Würstchen mit, überreicht den Frauen Blumen und möchte uns mit einer Rede ehren, Jan und ich wehren ab, nein, nein, nicht schon wieder eine Rede, Libena lacht, sie neckt mich liebevoll, nennt mich ihren Helden, und Beneš setzt in der Kirche auf dem Vyšehrad zu seiner Rede an, es ist kühl, ich trage einen Hochzeitsanzug, höre die Menschen hinter mir die Kirche betreten, höre die Menschen und Nezval, der auf dem Karlsplatz ein Gedicht zum Besten gibt, eine Geschichte über Juden, den Golem, Faust, über goldene Schlüssel und die Wappen und Schilder der Straße Nerudova, und die Zahlen auf einer Mauer bilden mein Geburtsdatum, bevor sie vom Wind davongetragen werden …
    Ich weiß nicht, wie spät es sein mag.
    Ich bin nicht Gabčik und werde es auch nie sein. Ich widersetze mich in aller Form der Versuchung des inneren Monologs, womit es mir in diesem entscheidenden Augenblick vermutlich gerade noch gelingt, mich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Ernst der Lage ist keine Entschuldigung, ich weiß sehr wohl, wie spät es ist, und bin hellwach.
    Es ist vier Uhr. Ich schlafe nicht in den steinernen Gewölben, die den toten Mönchen in der Kirche St. Kyrill und Method vorbehalten sind.
    Auf der Straße setzen die schwarzen Schatten ihr geheimes Ballett fort, nur dass wir uns nicht mehr in Lidice befinden, sondern im Herzen Prags. Für Bedenken ist es nun definitiv zu spät. Aus allen Richtungen strömen Armeelastwagen herbei, formen die Strahlen eines Sterns, dessen Zentrum die Kirche bildet. Auf einem Kontrollbildschirm könnten wir die Lichtsignale der Fahrzeuge beobachten, die sich langsam auf ihr Ziel zubewegen, dann aber stehenbleiben, bevor sie ihren Knotenpunkt erreicht haben. Die beiden Haupthaltepunkte befinden sich am Ufer der Moldau und am Karlsplatz, am jeweils entgegengesetzten Ende der Straße Resslova. Die Scheinwerfer erlöschen, und die Motoren verstummen. Unter den Planen sprudeln Kommandotruppen hervor. Vor jeder Toreinfahrt, vor jedem Kanaldeckel bezieht ein SS-Mann Posten. Auf den Dächern werden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Zaghaft zieht sich die Nacht zurück. Die ersten hellen Streifen des Morgengrauens schimmern bereits am Himmel, denn die Sommerzeit wurde noch nicht erfunden, und obwohl Prag ein wenig weiter westlich liegt als beispielsweise Wien, ist die Stadt dem Osten doch so zugewandt, dass die kalte Morgenluft sie sehr früh im Schlaf erschauern lässt. Der Häuserblock ist bereits umstellt, als Kommissar Pannwitz mit seiner kleinen Eskorte eintrifft. Dem Übersetzer, der ihn begleitet, strömt der Duft der Blumenbeete am Karlsplatz in die Nase (die Tatsache, dass er immer noch im Dienst ist, nachdem er Frau Moravec gestattete, sich auf der Toilette das Leben zu nehmen, spricht dafür, dass er ein verdammt guter Übersetzer sein muss). Kommissar Pannwitz ist mit der Abriegelung des Gebietes und der Festnahme der Attentäter beauftragt; es ist eine Ehre und eine schwerwiegende Verantwortung zugleich: Auf keinen Fall darf sich das Fiasko vom 28. Mai wiederholen, dieser kopflose Aktionismus, an dem er glücklicherweise nicht beteiligt war. Wenn alles gut läuft, wäre es die Krönung seiner Karriere; sollte die Operation hingegen nicht mit der Verhaftung oder dem Tod der Terroristen enden, muss er mit massiven Problemen rechnen. In dieser Angelegenheit steht für alle viel auf dem Spiel. Selbst für die Deutschen, deren
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