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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Immer wieder schwenkte er die mit Wasser gefüllten Flaschen und fingerte an den Drehverschlüssen herum. Dann fanden sie noch einen alten Pullover und feste gebrauchte Schuhe.
    »Mit deinen Sandalen kannst du unmöglich in die Berge«, erklärte er dem Jungen.
    Schließlich kaufte er Hesmat noch eine Taschenlampe, Streichhölzer und ein Feuerzeug.
    »Pass gut darauf auf«, sagte er. »Die Wärme kann dir das Leben retten.«

    Die beiden Alten besaßen kaum mehr als die Kleidung, die sie trugen, doch sie wollten Hesmat nicht mit leerem Bauch ziehen lassen. Sie tranken Goor, eine süßliche Essenz aus Zuckerrohr, dazu gab es am Abend vor dem Abschied Reis mit Schaffleisch und frisches Brot.
    »Iss«, sagte die Frau. »Du wirst es brauchen.«
    Am nächsten Morgen stellte der Alte Hesmat dem Führer vor. »Er ist ein guter Mann«, sagte er, als er Hesmat zum Treffpunkt am Stadtrand begleitete. »Befolge, was er sagt, und du wirst wohlbehalten ankommen.«
    Er schüttelte Hesmat die Hand und steckte ihm noch ein Päckchen mit den Essensresten vom Vorabend in den Umhang. Als sie losgingen, drehte sich Hesmat noch einmal um. Der Mann war wortlos verschwunden. Hesmat hatte nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Vier Tage hatte er in ihrem Haus gelebt, jetzt wusste er nicht einmal, wie das Paar hieß, das ihm Mut und seine Freundschaft geschenkt hatte.
    Sie waren knapp dreißig Leute. Händler, vertriebene Familien und einige Flüchtlinge wie er selbst. Die Esel waren bis über den Kopf hinaus vollgepackt, die Männer, Frauen und die zwei Kinder, die sie mitnahmen, trotteten im Gleichschritt mit den Tieren. Sie waren nicht die Einzigen. Immer wieder sahen sie andere Gruppen, die denselben Weg eingeschlagen hatten.
    Sie hielten sich auf einem schmalen Weg, einem schmalen Streifen, auf dem sie sicher waren. Östlich von ihnen standen die Taliban, während westlich von ihnen, auf der rechten Seite, das Gebiet der Mudschaheddin begann. Jederzeit konnte sich die Linie verschieben, der unausgehandelte Waffenstillstand gebrochen werden. Der Führer trieb sie an, und immer wieder überholten sie größere Gruppen, die langsamer als sie waren.
Immer wieder sahen sie Menschen, die alleine am Wegrand saßen und um Hilfe bettelten.
    »Weiter«, schrie der Führer, »wir haben keine Zeit!«
    Wer zurückblieb, war auf sich allein gestellt. Niemand konnte es sich leisten, sich um andere zu kümmern. Jeder war damit beschäftigt, selbst zu überleben. Wer sich zu lange in diesem Gebiet aufhielt, war tot. Sie hatten keine Zeit, um auf Nachzügler zu warten. Wer das Tempo nicht halten konnte, war verloren. Tuffon hatte ihm alles beschrieben, auch sein Vater hatte immer wieder von den Pfaden über die Berge gesprochen.
    »Es gibt keine Hilfe für die Schwachen«, hatte er erzählt. »Wer sein Wasser nicht einteilen kann, muss verdursten oder für Horrorpreise einen Schluck Wasser kaufen.«
    In der Nacht belauerten sie sich gegenseitig. In den Bergen gab es kein Gesetz, erst recht keine Ehre und keinen Stolz.
    »Nur wer seine Ehre in die Schluchten wirft, kann überleben«, hatte sein Vater gesagt, wenn er von seinen Reisen als Schmuggler erzählte. Sein Vater hatte nach dem Abzug der Russen plötzlich seine Arbeit verloren. Er hatte gehofft, die Russen würden Afghanistan den ersehnten Frieden bringen, und hatte für sie gearbeitet. Doch dann hatten sie das Land verlassen. Um Geld zu verdienen, versuchte er wie viele andere, als Schmuggler zu überleben. Aus dem Krieg kannte er die geheimen Pfade über die Grenze und wusste, was die Menschen in der Stadt brauchten. Er kannte die, die noch genug Geld besaßen, um sich einen bescheidenen Luxus leisten zu können. Vor allem aber kannte er die Schmuggler in Pakistan. Er hatte sich Geld geliehen, um damit Waren in Pakistan zu kaufen, sie über die Grenze zu schmuggeln und zu Hause teurer an Apotheken zu verkaufen.
    »Bald haben wir wieder genug Geld im Haus«, hatte er versichert, »niemand von uns hat bisher hungern müssen und das
wird auch so bleiben. Habt keine Angst. Ich weiß, auf wen ich mich verlassen kann.«
    Hesmat kannte die Schmuggler. Sie organisierten alles, was man im Land nicht mehr kaufen konnte: Fernsehgeräte, Satellitenschüsseln oder auch Waschmaschinen. Genau wie Autos und Medikamente. Sie verdienten am Krieg, an den Waffen, an Drogen, am Elend der Menschen. Er wusste auch, wie gefährlich ihre Arbeit war. Er kannte die Geschichten von den Überfällen und Festnahmen, von
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