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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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denen, die ihre Arbeit mit dem Leben bezahlt hatten.
    Jetzt war Hesmat selbst auf diesen alten Schmugglerrouten unterwegs, und die Geschichten, die sein Vater über den Tod in den Bergen erzählt hatte, machten ihm Angst.
    In der ersten Nacht suchte er sich einen Platz abseits der Gruppe. Als die Angst zu groß wurde, schlich er wieder zurück zu den anderen. Wenn sie ihn ausrauben wollten, hatte er so oder so keine Chance, und er wusste, dass er das erste Opfer sein würde, wenn sie nichts mehr zu essen hätten.
    In den wenigen Stunden, die er schlief, träumte er von den Toten, die sie täglich sahen, oder davon, vom Weg abzustürzen. Manchmal träumte er vom Klicken einer Mine unter seinen Füßen. Nach jedem Traum erwachte er schweißgebadet und fand sich in der feuchten Kälte wieder, die von der Erde durch die Decke und den Pullover drang. Die Kälte drang in jede Pore, und vergeblich versuchte er, mit klappernden Zähnen wieder einzuschlafen. Den Nächten folgten Tage, die jedem Albtraum Konkurrenz machten.
    Es war so, wie es die Kämpfer in Mazar oft beschrieben hatten, wenn Hesmat wortlos in der Ecke gesessen und ihnen dabei zugehört hatte, wie sie vom Krieg, vom Elend, vom Sterben erzählten. »Der Mensch kann mehr ertragen, als sich irgendjemand vorstellen kann«, sagten sie, und sein Vater hatte wortlos
genickt. »Tausendmal glaubt man zu sterben, dass die Schmerzen nicht mehr zu ertragen sind, das letzte Körnchen Kraft den Körper schon lange verlassen hat«, sagten sie, »aber irgendwann vergisst man die Schmerzen, den Hunger, das Leid. Der Kopf ist leer, der Körper ein stiller See, der alle Schmerzen bedeckt. Nur selten schwappt eine Welle des Schmerzes an die Oberfläche und erinnert dich daran, dass du längst eine Grenze überschritten hast.«
    Er hatte die Grenze überschritten und es schon lange aufgegeben, seine Schritte zu zählen. Er hatte vergessen, wie viele Serpentinen sie sich die Berge hinaufgeschleppt hatten, wie oft seine Beine versagt hatten. Er zählte zu den Kräftigsten, dabei fühlte er sich schon nach der ersten Nacht beinahe zu schwach, um wieder aufzustehen. Die Decke, die ihm das alte Paar in Taloqan zum Abschied geschenkt hatte, schlotterte um seine Schultern. In der Nacht war sie der einzige Schutz gegen die Kälte.
    Am Tag stiegen die Temperaturen, die Sonne brannte erbarmungslos auf die Gruppe nieder, die sich scheinbar ziellos den Weg durch immer neue und noch mächtigere Berge bahnte. Er konnte nicht verstehen, wie die Kinder und die Frauen diese Strapazen ertragen konnten. Schweigend gingen sie neben den Packtieren her und nur selten sah er eine stumme Träne auf den Wangen der Kinder. Es gab kein Klagen, kein Jammern, auch wenn der Führer das Tempo nur selten verlangsamte oder ihnen eine kurze Pause gönnte. Wortlos trieb er sie wie eine Herde Schafe mit seinem Stock an, wenn sie sich nach kurzer Rast mit einem tiefen Seufzen erhoben und in die Runde blickten. Im stummen Protest schlugen sie die Augen vor seinen Blicken nieder und folgten ihm doch widerspruchlos weiter. Nie fragte jemand, wie lange der Weg sich noch ziehen würde, niemand fragte nach einer Pause. Wenn er stehen blieb, sanken sie
nieder, wo sie gerade standen. Wenn er trank, suchten auch sie mit einem Schluck aus ihren Flaschen nach Erholung.
    Sie standen lange vor den ersten Sonnenstrahlen auf und gingen, bis die Dämmerung hereinbrach. Wenn die Sonne am höchsten stand, verkrochen sie sich im Schatten der Steine und gönnten ihren schmerzenden Beinen eine kurze Pause.
    Wenn sie einen Bach querten, steckten sie ihre nackten Füße in die Fluten und erwachten für wenige Augenblicke aus ihrem Albtraum. Sie fanden sich in einer Landschaft wieder, die so schön, so atemberaubend und doch so tödlich, so einsam und verlassen war, dass man nur zum Sterben hierherkommen konnte. Dann gingen sie weiter und ein schmerzender Schritt folgte dem nächsten.
    Als sie den fünften Pass überschritten hatten, entdeckten sie vor ihnen ein Lager. Der Weg hatte sie direkt zu den Mudschaheddin geführt und so standen sie praktisch plötzlich mitten im Lager der Kämpfer. Der Oberst schrie und bestrafte seine Männer mit Fußtritten. Die müden Kämpfer hatten nicht damit gerechnet, hier auf Fremde zu treffen. Die Wachen waren eingeschlafen und niemand hatte die Gruppe mit Hesmat bemerkt. Die Kämpfer hatten Glück, denn die Gruppe bestand nur aus müden Händlern und Flüchtlingen, die keine Gefahr für sie darstellten,
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