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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition)
Autoren: T.A. Wegberg
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lass doch«, sagt meine Mutter weichherzig, »er wird in seinem Leben noch nicht oft so eine Gelegenheit gehabt haben.«
    »Na und? Müssen ausgerechnet wir die ihm bieten?«, schnappe ich, muss aber insgeheim zugeben, dass sie recht hat. Eine Kindheit in besetzten Abbruchhäusern, eine Jugend im Heim – vielleicht ist ein Wannenbad für Anoki der Inbegriff von Luxus. Ich kann mir das Leben, das er bisher geführt hat, gar nicht so richtig vorstellen. Leicht beschämt nehme ich meine Klamotten und gehe raus in den Anbau, wo wir noch eine einfache Zweitdusche haben. Für heute wird die auch genügen.
    Es ist kalt, aber sonnig, deshalb machen wir nach dem Frühstück einen Spaziergang zum See und bummeln am Bollwerk entlang. Anoki schaut sich alles sehr gründlich an. Ich weiß, was in ihm vorgeht. Er wird die Schule wechseln müssen, seine Kumpels verlieren, muss sich neu positionieren, und noch dazu wird er zum ersten Mal in seinem Leben in einer ganz normalen Familie leben, deren Regeln er erst zu lernen hat.
    Ich habe meine Kamera dabei, ohne die ich selten das Haus verlasse, und finde ein paar dankbare Motive: das Glitzern des Wassers, die bogenförmigen Öffnungen der Stadtmauer vor der Klosterkirche. Anoki bleibt mit mir ein bisschen hinter meinen Eltern zurück und beobachtet, wie ich den optimalen Standort wähle. Nachdem ich vier Bilder vom selben Motiv gemacht habe, nur mit unterschiedlichen Brennweiten und Belichtungen, frage ich ihn: »Was meinst du, würde es dir hier gefallen?«
    In seinen Augen nimmt die Angst inzwischen einen noch größeren Raum ein. »Keine Ahnung«, sagt er, »ist schon ziemlich anders hier. Ich weiß nicht. So richtig pass ich hier nicht hin, oder?«
    »Das ist Quatsch«, sage ich, »man kann sich überall zurechtfinden, wenn’s sein muss.«
    Besonders überzeugt wirkt er nicht, und um ihn auf andere Gedanken zu bringen, weise ich ihn an, sich in einen der Mauerbogen zu setzen, und mache ein paar Fotos von ihm. Er setzt sich bereitwillig und sehr professionell in Szene, ohne dabei zu übertreiben: ein Naturtalent.
    Meine Eltern fragen ihn allerhand bezüglich der Schule. Anoki ist seit dem Sommer in der siebten Klasse, das heißt, er hat gerade erst von der Grund- auf die Oberschule gewechselt. Seine Noten sind nicht gerade sensationell, wie er zugibt. Seine Lieblingsfächer sind Englisch und Sport, darin ist er ganz gut. Ansonsten – na ja, Deutsch ist eine Katastrophe, und Mathe tendiert auch in diese Richtung. Er hat ein Problem mit Regeln, denke ich bei mir. Meine Eltern sollten sich warm anziehen. Und dann ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass es ihnen recht geschieht, wenn er ihr Leben so richtig auf den Kopf stellt, wenn er sie ausnutzt, belügt, betrügt und ins Chaos stürzt, weil sie mir bis heute nicht verziehen haben.
    Nach dem Mittagessen packt Anoki seine drei Habseligkeiten in den gammeligen Rucksack, drückt seinen Panther an sich und steigt die Treppe runter, und wie er da so im Wohnzimmer steht, mit diesen ungebändigten Dreads und dem verlorenen Ausdruck seiner Augen, steigt erneut Mitleid in mir hoch wie Fieber. So wie er bei seiner Ankunft ohne Worte Provokation kommuniziert hat, sendet er jetzt Angst aus. Er fürchtet, dass meine Eltern ihn zurückbringen und sagen: »Tja, Anoki, es tut uns leid, aber du passt wohl doch nicht so recht in unsere Familie. Wir werden uns wohl ein anderes Kind aussuchen, nichts für ungut.« Keine Ahnung, warum ich das so genau weiß – es ist, als stünde es in Helvetica fett auf seine Stirn geschrieben.
    Ich gehe mit ihm nach draußen und sage: »Hör mal, du hast bestimmt gemerkt, dass meine Eltern ziemlich auf dich abfahren, oder?«
    Defensiv presst er den Panther gegen seine Brust, weil er das vermutlich für den Auftakt einer Bedrohung hält. Ihm ist wohl kaum entgangen, dass ich verflucht eifersüchtig bin und eigentlich keinen Wert auf einen neuen kleinen Bruder lege. Aber diesmal irrt er sich: ich will ihn bloß beruhigen, ich will, dass diese Angst aus seinen Augen verschwindet. »Du bist so gut wie gekauft«, sage ich. »Mach dir keine Sorgen. Es sei denn, du findest es hier total scheiße – dann solltest du dir allerdings Sorgen machen.« Zuerst guckt er mich ungläubig an, aber dann heben sich seine Mundwinkel zu einem ganz schüchternen, angedeuteten Lächeln.

 
 
9
    Noch am selben Abend ruft meine Mutter an. »Und? Was sagst du? Ist er nicht ein Schatz? Wir haben alles klargemacht. Weihnachten wird Anoki
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