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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
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mit den Papieren,
     das Kurtz mir gegeben hatte, behielt ich, ohne genau zu wissen wozu. Seine Mutter war kürzlich gestorben; seine Verlobte sei
     bei ihr gewesen, sagte man mir. Ein glattrasierter Mann mit offiziellem Gebaren und Goldrandbrille auf der Nase besuchte mich
     eines Tages und stellte Fragen, anfangs umständlich, später höflich drängend – nach dem, was er gewisse ›Dokumente‹ nannte.
     Ich war nicht überrascht, denn ich hatte deswegen schon zwei Auseinandersetzungen dort draußen mit dem Manager gehabt. Ich
     hatte mich geweigert, auch nur den kleinsten Zettel des Pakets herauszugeben, und die gleiche Haltung nahm ich auch gegenüber
     dem Brillenträger an. Schließlich drohte er mir |122| finster und erklärte hitzig, daß die Firma das Recht selbst auf die kleinste Information über ihre ›Territorien‹ habe. Und,
     sagte er, ›Mr.   Kurtz’ Kenntnis unerforschter Gebiete mußte zwangsläufig weitreichend und aufschlußreich gewesen sein – aufgrund seiner hervorragenden
     Fähigkeiten und der bedauernswerten Lage, in die er gebracht worden war; daher   ... ‹ Ich versicherte ihm, daß Mr.   Kurtz’ Kenntnis, egal wie weitreichend, keinen Bezug zu irgendwelchen Fragen des Handels oder der Verwaltung hätten. Daraufhin
     berief er sich auf die Wissenschaft. ›Es wäre ein unkalkulierbarer Verlust, wenn‹ etc. etc. Ich bot ihm den Bericht über die
     ›Unterdrückung primitiver Gebräuche‹ an, von dem ich das Postskriptum abgerissen hatte. Eifrig griff er zu, doch am Ende schnüffelte
     er nur verächtlich daran herum. ›Das ist nicht das, was wir mit Recht erwarten konnten‹, bemerkte er. ›Erwarten Sie sonst
     nichts‹, erwiderte ich. ›Es gibt nur persönliche Briefe.‹ Unter vagen Androhungen juristischer Folgen verließ er mich, und
     ich sah ihn nie wieder, doch zwei Tage später erschien ein anderer Kerl, der sich als Kurtz’ Vetter ausgab und begierig darauf
     war, von den letzten Augenblicken seines lieben Verwandten in allen Einzelheiten zu hören. Beiläufig erwähnte er, daß Kurtz
     in erster Linie ein großer Musiker gewesen sei. ›Eine außergewöhnliche Karriere hätte ihm bevorgestanden‹, sagte der Mann,
     ein Organist, glaube ich, mit dünnem grauen Haar, das ihm über den speckigen Mantelkragen hing. Ich hatte keinen Grund, seine
     Worten anzuzweifeln, und bis heute kann ich nicht sagen, was Kurtz’ Beruf war, ob er je einen gehabt hatte – welche die größte
     seiner Gaben war. Ich hatte ihn für einen Maler gehalten, der für die Zeitung schrieb, oder für einen Journalisten, der malen
     konnte – doch selbst der Vetter (der während der Unterhaltung Tabak schnupfte) wußte nicht, was er gewesen – was genau. Er
     war ein Universalgenie – in diesem Punkt war ich mir mit dem Alten einig, der |123| daraufhin geräuschvoll die Nase in ein großes Baumwolltaschentuch schneuzte und mit greisenhafter Erregung ein paar Briefe
     an die Familie und bedeutungslose Notizen davontrug. Schließlich tauchte noch ein Journalist auf, der unbedingt etwas vom
     Schicksal seines ›lieben Kollegen‹ wissen wollte. Dieser Besucher erklärte mir, daß Kurtz’ eigentliche Sphäre die Politik
     hätte sein sollen, eine ›populistische‹. Er hatte struppige, gerade Augenbrauen, kurzes borstiges Haar und ein Monokel an
     einem breiten Band, und als er mitteilsamer wurde, gestand er, daß Kurtz seiner Meinung nach in Wirklichkeit kein bißchen
     schreiben konnte – ›Doch, lieber Himmel! Wie der Mann reden konnte! Er konnte große Versammlungen elektrisieren. Er hatte
     Glauben – verstehen Sie? Er hatte Glauben. Und er konnte sich dazu bringen, alles zu glauben – alles. Er wäre der hervorragende
     Führer einer radikalen Partei geworden.‹ ›Welcher Partei?‹ fragte ich. ›Irgendeiner Partei‹, antwortete er. ›Er war ein –
     ein – Radikaler.‹ Ob ich nicht auch so dächte? Ich stimmte zu. Wußte ich, fragte er mit plötzlich aufflammender Neugier, ›was
     ihn dazu gebracht hatte, dort hinaus zu gehen?‹ ›Ja‹, sagte ich und überreichte ihm unverzüglich den berühmten Bericht zur
     Veröffentlichung, falls er ihn für geeignet hielt. Hastig überflog er ihn, murmelte dabei vor sich hin, dann befand er, ›es
     wird reichen‹, und machte sich mit seiner Beute davon.
    So blieb mir am Ende ein schmales Bündel mit Briefen und das Portrait der jungen Frau. Ich hielt sie für schön – das heißt,
     sie hatte einen wunderschönen Ausdruck.
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