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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand
Autoren: Troll Trollson
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schweigend und nägelkauend dabeigesessen hatte, protestierte schwach. Dann verlangte er, sich mit seinem Mandanten unter vier Augen besprechen zu dürfen. Karimi zeigte auf ein in der Ecke stehendes Sofa, auf dem die Kommissare gewöhnlich saßen, wenn sie kifften.
    Der Anwalt hätte mit Amadou in einen Nebenraum gehen können. Oder er hätte Karimi, Canisades und Polidorio bitten können, vor die Tür zu treten. Stattdessen führte er Amadou zu dem sieben oder acht Meter entfernt stehenden Möbel und erklärte ihm in gedämpftem Tonfall – wenngleich für die Polizisten deutlich vernehmbar –, dass die Indizienlage erdrückend und der Tag sehr heiß sei. Er fügte mit erhobenem Zeigefinger hinzu, vor den Augen Allahs sei ohnehin alles entschieden. Vor einem irdischen Gericht hingegen könne man in diesem Fall mit einem Geständnis weder etwas verbessern noch etwas verschlimmern, allein die sinnlose und entehrende Prozedur werde abgekürzt. Und ein Mann von Ehre, wie Amadou es sei usw. Der Mann war nicht gerade ein Staranwalt. Er hatte ein Bauerngesicht und trug einen schlechtsitzenden schwarzen Anzug, in dessen Brusttasche wie ein verzweifelter Hilfeschrei ein senffarbenes Taschentuch steckte. Auf dem Kommissariat war nicht ganz klar, wo Amadous Familie den Mann überhaupt aufgetrieben hatte. Die Vermutung, er werde in Naturalien entlohnt, lag nahe. Amadou hatte sechs oder sieben Schwestern.
    «Oh, Mann», sagte Canisades mit Blick auf den Schreibtisch. Er freute sich wie ein kleines Kind. «Oh, Mann. Oh, Mann.»
    Polidorio sah auf seine Uhr, zog zwei Aspirin aus der Tasche und schluckte sie trocken. Mit hochgerecktem Kinn schaute er eine Weile zum Deckenventilator. Der Beschuldigte beharrte noch immer pantomimisch auf seiner Version: Spaziergang in der Wüste, Sandale, Obstkorb, Verhaftung. Er wand sich auf dem Sofa hin und her, und während der Anwalt seine Argumente zum dritten oder vierten Mal wie ein Grundschullehrer wiederholte, fing Polidorio plötzlich einen Blick des Angeklagten auf, den er so noch nicht gesehen hatte. Was war das für ein Blick? Es war der verzweifelte Blick eines nicht allzu intelligenten Menschen, dem in diesem Moment, während des monoton dahinplätschernden Redeflusses seines Anwalts, zu Bewusstsein kommt, dass sein Leben zu Ende ist, der Blick eines Mannes, der trotz erdrückender Beweislast bis vor wenigen Minuten davon ausgegangen sein musste, es gebe eine Chance, der Guillotine zu entgehen, ein Blick, der nicht allein verzweifelt, sondern auch überrascht schien, der Blick eines Mannes, dachte Polidorio, der – vielleicht unschuldig war.
    Er blätterte in den Akten.
    «Wo sind eigentlich die Fingerabdrücke?»
    «Was für Fingerabdrücke?»
    «Auf der Waffe.»
    Karimi wickelte kopfschüttelnd eine Schokopraline aus dem Stanniolpapier.
    «Wir haben vierzig Augenzeugen», sagte Canisades. «Und Asiz ist im Urlaub.»
    «Das kann doch jeder andere auch?»
    «Was kann jeder andere auch? Kannst du das?» Karimi, der unbedingt noch bei Helligkeit zurück nach Tindirma wollte, wo er eine Verabredung mit einem LIFE-Reporter hatte, schnaubte. «Nicht mal Asiz kann das. In der Palastwache hat er eine Woche lang das Gelände zugeklebt. Dann hatte er vierhundert Abdrücke, und die einzigen beiden, die erkennbar waren, waren vom achtjährigen Sohn des Hausmeisters.»
    Polidorio seufzte und sah zum Anwalt hinüber, der aufgehört hatte zu reden.
    Amadous Kopf war auf halbmast gesunken.

    SHAKESPEARE
     
    Ich bekam mal einen wundervollen Brief von der Ärzteschaft der medizinischen Fakultät in Boston, Massachusetts. Sie hatten mich zu der Person gewählt, die sie am liebsten operieren würden.
    Dyanne Thome
     
    Helen war sich der Wirkung ihrer Person nie bewusst gewesen. Sie kannte sich nur von Fotos oder aus dem Spiegel. Ihrer eigenen Einschätzung nach sah sie gut, auf manchen Bildern sogar atemberaubend aus. Sie hatte ihr Leben im Griff, ohne besonders glücklich oder unglücklich zu sein, und sie hatte keine Probleme mit Männern. Jedenfalls nicht mehr als ihre Freundinnen. Eher weniger. Vom Beginn der Highschool an gerechnet, hatte Helen sieben oder acht Beziehungen gehabt, allesamt mit Jungen, die etwa in ihrem Alter, sehr nett, sehr wohlerzogen und sehr sportlich waren, Jungen, denen Intelligenz an ihren Freundinnen nicht sonderlich wichtig erschien und die sie auch an Helen selten bemerkten.
    Helen machte sich keine Gedanken deswegen. Wenn Männer sich für geistig überlegen halten
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