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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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heimsuchen; mein Brechreiz rührt vielmehr davon her, daß sie die Tributpflichtigen fortwährend demütigen. Das Finanzamt ist die bürokratische Nemesis, die sich an unseren Freuden rächt.«
    Einige lachten ihn aus und sagten, er möge sich an die Stoiker halten, von denen er doch so viel zu halten scheine.

45 Von Brehms Thierleben war Z. nicht abzubringen. »Ganz gleich, was die Wissenschaft gegen ihn einwenden mag –«, sagte er, »mir kommen die Schwäne genauso vor, wie er sie schildert. Sie seien klug und verständig, legten aber selten ihre eigentümliche Scheu und Zurückhaltung ab; in ihrem Wesen sprächen sich Selbstbewußtsein und Gefühl der eigenen Würde aus, aber auch eine gewisse Herrschsucht.«
    Neben ihrem Hochmut fielen dem altenBrehm ihr tadelnswerter Neid und eine gewisse Heimtücke auf. Das sei ebenso naiv wie zutreffend. Nur dadurch, daß wir einsähen, wie ähnlich wir den Tieren sind, könnten wir überhaupt mit ihnen umgehen. Was man diesem liebenswürdigen Mann des neunzehnten Jahrhunderts vorwerfe, sein Anthropomorphismus, sei bloß ein Fremdwort.

46 Nur auf einsame Freundschaften sei Verlaß, behauptete Z. Ein Intimfeind sei mehr wert als ein öffentlicher Kumpan. Der Herr mit der Sonnenbrille, der sich ansonsten mit Kommentaren zurückhielt, quittierte diese Bemerkung mit einem deutlichen Kopfnicken.

47 Als sich einer von uns über seinen altertümlichen Sprachgebrauch beschwerte, entgegnete Z. ihm, eine gehörige Dosis von Anachronismus sei heilsam; denn wer sich dem Zeitgeist anvertraue, dem sei nicht zu helfen.
    Dann murmelte er die folgenden Worte vorsich hin: Weidlich. Geflissentlich. Löblich. Schlechthin.
    »Lauter!« riefen einige. »Wir verstehen kein Wort.«
    Z. hob die Stimme und fuhr fort: »Wehmut. Hagestolz. Gewärtigen. Verunglimpfen. Entblöden. Turteln. – Wann«, fragte er, »haben Sie diese Wörter zum letzten Mal gehört?«
    »Keine Ahnung«, antwortete ein junger Mann in einer Bomberjacke. »Aber machen Sie sich nichts daraus. So wie die Kleider, denken Sie nur an die Toga und den Dreispitz, kommen auch die Wörter aus der Mode. Dafür werden jeden Tag neue geprägt. Zum Beispiel twittern oder chillen. Auch nicht schlechter als turteln oder gewärtigen , wenn Sie mich fragen. Daß Sie die Wehmut vermissen, kann ich zwar verstehen. Aber das ist noch lange kein Grund, sentimental zu werden!«
    »Das«, entgegnete ihm Z. nach einer Schrecksekunde, »will ich mir gesagt sein lassen. Dennoch möchte ich ein gutes Wort für die Ungleichzeitigkeit einlegen. Es ist schlimmgenug, daß wir zur Zeitgenossenschaft verurteilt sind. Der Trend mag die Langeweile vertreiben und die Aktualität uns mit ihren schrillen Tönen betäuben. Aber um so angenehmer ist es, sich von der Gegenwart auszuruhen. Dazu kann Ihnen die Musik von Ockeghem oder Gombert verhelfen, weil sie nicht nur alt, sondern sogar uralt ist. Versuchen Sie es! Zeitversetzt lebt es sich, glaube ich, gesünder.«

48 »An den Philosophen gefällt mir«, sagte Z., »daß sie so zahlreich sind, zweitens, daß jeder dem andern widerspricht, und drittens, daß sie nicht davor zurückschrecken, über Dinge zu reden, von denen sie keine Ahnung haben. Man muß sich, um sie zu würdigen, auf der Zunge zergehen lassen, was der große Hegel über die Vermittlung gesagt hat:
    ›Sie ist nichts anderes als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abstraktion herabgesetzt, das e infache Werden . Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst.‹
    Kein Dadaist«, schloß Z. aus diesem Zitat, »hätte es schöner sagen können.«

49 Wenn er merkte, daß einige von uns sich langweilten, ärgerte sich Z. und sagte: »Nur langweilige Menschen langweilen sich.« Niemand wollte sich dadurch eine Blöße geben, daß er gegen dieses Urteil protestiert hätte.

50 Nicht zum ersten Mal warteten wir am nächsten Nachmittag vergebens auf Z. Nur ein halbes Dutzend Spaziergänger hatten sich am gewohnten Ort eingefunden. Am Wetter konnte es nicht liegen, denn es stand keine Wolke am Himmel. Der junge Mann in der Bomberjacke war der erste, der sich beschwerte. »Er läßt uns einfach hier warten«, sagte er.
    »Das wundert Sie?« fragte die resolute Dame im Nerzmantel. »Wir sollten uns über solcheZufälle nicht
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