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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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das Bedürfnis verspürte, um sich von der Erde zu lösen, dem Ort der überflüssigen Komplikationen und vagen Annäherungen? Jetzt, da er sich wirklich im Angesicht des gestirnten Himmels befindet, scheint ihm alles irgendwie zu entgleiten. Auch das, wofür er ein besonders feines Gespür zu haben glaubte, nämlich die Winzigkeit unserer Welt angesichts der grenzenlosen Entfernungen, tritt nicht unmittelbar zutage. Das Firmament ist etwas, das sich dort oben befindet; man sieht, daß es da ist, doch man bekommt dadurch keinerlei Vorstellung von Distanzen und Dimensionen.
     Wenn die Lichtkörper so mit Ungewißheit geladen sind, bleibt einem nur, sich der Finsternis anzuvertrauen, den leeren Himmelsregionen. Was könnte beständiger sein als das Nichts? Aber nicht einmal auf das Nichts ist hundertprozentig Verlaß: Wo Herr Palomar eine Lichtung im Firmament erblickt, will sagen ein leeres schwarzes Loch, starrt er unverwandt hin, als wollte er sich hineinversetzen, und plötzlich ist ihm, als käme auch dort ein winziges blinkendes Körnchen oder Fleckchen oder ein Sommersprößchen zum Vorschein, aber er weiß nicht recht, ob es wirklich vorhanden ist oder ob er es nur zu sehen meint. Vielleicht ist es bloß ein Flimmern, wie man es kreisen sieht, wenn man die Augen geschlossen hält (der dunkle Himmel ist wie die von Lichteindrücken durchzuckte Innenseite der Lider), vielleicht ist es ein Reflex seiner Brillengläser, aber es könnte genausogut auch ein unbekannter Stern sein, der aus den fernsten Tiefen aufschimmert.
     Diese Betrachtung der Sterne vermittelt ein instabiles und widersprüchliches Wissen – denkt Herr Palomar –, genau das Gegenteil dessen, was die Alten aus ihr zu schöpfen wußten. Sollte es daran liegen, daß sein Verhältnis zum Himmel sporadisch und voller Erregung ist, statt eine regelmäßige stillvergnügte Gewohnheit zu sein? Wenn er sich vornehmen würde, die Sterne Nacht für Nacht und Jahr für Jahr zu betrachten, unermüdlich ihr Hin und Her auf den gebogenen Gleisen des dunklen Himmelsrunds zu verfolgen, dann käme vielleicht auch er am Ende zu einem Begriff von kontinuierlicher und beständiger Zeit fern der labilen und zerstückelten Zeit des Geschehens auf Erden. Aber würde die Aufmerksamkeit für die Revolutionen am Himmel genügen, um ihn mit diesem Stempel zu prägen? Oder bedürfe es nicht vor allem einer inneren Revolution, wie er sie nur theoretisch annehmen kann, ohne Vorstellung von ihren greifbaren Folgen für sein Fühlen und Denken?
     Von der mythischen Kenntnis der Gestirne erhascht er nur einen blassen Schimmer, von der wissenschaftlichen nur den Widerhall in den Zeitungen; dem, was er weiß, mißtraut er; das, was er nicht weiß, hält seinen Geist in Atem. Bedrückt, unsicher und immer nervöser brütet er über den Himmelskarten wie über zerblätterten Fahrplänen auf der Suche nach einem Anschluß.
     Da, ein glänzender Pfeil durchpflügt den Himmel. Ein Meteor? Schon möglich, dies sind genau die Nächte, in denen man häufig Sternschnuppen sieht. Aber es könnte ebensogut auch ein hellerleuchtetes Flugzeug sein. Herrn Palomars Blick hält sich wachsam, bereit, von jeder Gewißheit frei.
     Seit einer halben Stunde sitzt er jetzt da am Strand im Dunkeln, auf einem Liegestuhl, dreht sich abwechselnd bald nach Süden, bald nach Norden, knipst immer wieder die Lampe an, beugt sich über die Karten, die er ausgebreitet auf seinen Knien hat, und beginnt dann erneut seine Himmelserkundung, ausgehend vom Polarstern. Lautlose Schatten huschen über den Strand, ein Liebespaar löst sich aus der Düne, ein nächtlicher Angler, ein Zollbeamter, ein Schiffer. Herr Palomar hört ein Getuschel. Er blickt sich um: Wenige Schritte von ihm entfernt hat sich eine kleine Menschenmenge gebildet, die aufmerksam seine Gebärden verfolgt, als wären's die Zuckungen eines Verrückten.
     

Herr Palomar in der Stadt
     

Herr Palomar auf der Terrasse
Blick über die Dächer der Stadt
    Ksch! Ksch! – Herr Palomar läuft auf die Dachterrasse, um das Taubenpack zu verscheuchen, das die Blätter der Gazanie frißt, die Sukkulenten mit Schnabelhieben durchlöchert, sich mit den Krallen in die Glockenblumenkaskade klammert, die Brombeeren pickt, Hälmchen um Hälmchen die in dem kleinen Kasten nahe der Küche gepflanzte Petersilie abrupft, scharrend und grabend die Erde in den Blumentöpfen aufwühlt, bis die Wurzeln freiliegen, als wäre der einzige Zweck ihrer Flüge Zerstörung.
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