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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Bevölkerung, habe einstimmig beschlossen, ein Gebäude zu errichten, wie es noch niemals in der Geschichte zu bauen versucht worden sei. Außer von den Kindern Israels natürlich, aber selbst die seien kläglich gescheitert, den Turm zu Babel zu vollenden. Nun werde Aburĩria das tun, wozu die Israeliten nicht fähig gewesen waren: ein Gebäude errichten, das bis an die Himmelspforten reiche, damit der Herrscher jeden Tag bei Gott vorbeischauen und ihm Guten Morgen oder Guten Abend wünschen oder ihn einfach fragen könne: Wie war dein Tag heute, Gott? Damit empfinge der Herrscher Tag für Tag Gottes Rat, und das werde Aburĩria schnell zu Höhen aufsteigen lassen, die kein Mensch zuvor erträumt habe. Das Vorhaben mit der Bezeichnung „Heavenscrape“ – oder einfach „Marching to Heaven“ – solle von einem Nationalen Baukomitee ausgeführt werden, dessen Vorsitzender rechtzeitig ernannt werde.
    Da diese wunderbare Idee vom Geburtstagsgeschenk-Komitee gekommen sei, fuhr Machokali fort, werde er die gute Arbeit der Mitglieder dieses Komitees gerne dadurch würdigen, dass er jeden von ihnen dem Herrscher vorstelle. Die Mitglieder des Komitees waren in der Mehrzahl Parlamentsabgeordnete, aber es befanden sich auch zwei oder drei Privatpersonen darunter, von denen einer, er hieß Titus Tajirika, beinahe hinfiel, weil er hochsprang, als sein Name aufgerufen wurde. Tajirika hatte dem Herrscher noch nie die Hand geschüttelt, und der Gedanke, dass dies nun vor Tausenden Menschen geschehen sollte, überwältigte ihn derart, dass er vor Freude über sein Glück am ganzen Körper zitterte. Sogar als er zu seinem Sitz zurückkehrte, betrachtete Tajirika noch völlig ungläubig seine Hand und überlegte, was er tun könnte, um zu vermeiden, anderen die Hand schütteln oder sie gar waschen zu müssen. Er hasste Handschuhe, aber jetzt wünschte er sich, welche in der Tasche zu haben. Das werde er mit Sicherheit ändern. Doch in der Zwischenzeit wollte er die gesegnete Hand mit seinem Taschentuch umwickeln, damit die Leute glaubten, wenn er ihnen die linke Hand gab, es geschehe wegen einer Verletzung. Tajirika war so damit beschäftigt, seine rechte Hand zu umwickeln, dass er die Geschichte von Marching to Heaven teilweise versäumte. Jetzt aber wandte er seine Aufmerksamkeit wieder ganz Machokalis Ausführungen zu.
    Minister Machokali schwärmte gerade aufgeregt und lautstark davon, wie die Vorteile dieses Projekts letztlich allen Bürgern zugute kämen. Sei das Vorhaben erst einmal verwirklicht, würde niemals wieder ein Historiker von anderen Weltwundern sprechen, denn der Ruhm dieses modernen Turmbaus zu Babel werde die Hängenden Gärten Babylons, die ägyptischen Pyramiden, das aztekische Tenochtitlán oder die Große Mauer in China in den Schatten stellen. Und wer werde dann noch vom Taj Mahal reden? „Unser Projekt wird das erste und einzige Superwunder der Weltgeschichte sein. Um es kurz zu machen“, so erklärte Machokali, „Marching to Heaven ist eben diese besondere Geburtstagstorte, die sich die Bürger für ihren einzigen und wahren Führer, den ewigen Herrscher der Freien Republik Aburĩria, zu backen entschlossen haben.“
    An dieser Stelle machte Machokali eine kurze, dramatische Pause, um den Jubelrufen angemessenen Raum zu geben.
    Außer den Parlamentsabgeordneten, den Ministern, den Amtsträgern der Ruler’s Party und den Vertretern der bewaffneten Kräfte klatschte niemand. Machokali bedankte sich dennoch bei der versammelten Menge für die überwältigende Unterstützung und forderte jeden Bürger auf vorzutreten, der das Bedürfnis habe, etwas zum Ruhme von Marching to Heaven zu sagen. Die Leute blickten sich an und starrten dann wie versteinert zur Bühne. Die einzigen Hände, die sich streckten, gehörten den Ministern, Parlamentsabgeordneten und Amtsinhabern der Ruler’s Party, doch der Minister achtete nicht auf sie und wandte sich noch einmal an die versammelte Bürgerschaft. „Seid ihr vom Glück so überwältigt, dass ihr keine Worte findet? Ist denn gar keiner da, der seine Freude in Worte fassen kann?“
    Ein Mann hob die Hand, und Machokali winkte ihn eilig zum Mikrofon. Der Mann, offensichtlich schon in fortgeschrittenem Alter, stützte sich auf einen Gehstock, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Zwei Polizisten eilten zu ihm und geleiteten ihn zum Mikrofon neben der Bühne. Noch immer wurde das Alter in Aburĩria hoch geachtet, und die Menge wartete auf seine Worte
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