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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen
Autoren: dtv
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Ich fing an zu heulen und mich zu verteidigen: ›Das ist nur‹, habe ich gesagt, ›damit du in der Galerie Rothwein auch mit
     dabei bist, wenn wir eröffnen! Das wolltest du doch unbedingt, oder nicht?!‹ Mir war wirklich der halbe Spaß verdorben, ich
     wollte doch, dass die Omi das noch erlebt, dass ich bei Rothwein ausstelle, und nun machte sie mir diesen Strich durch die
     Rechnung. Zur Strafe hab ich sie von drei Seiten gemalt, von vorn, von rechts und von links. Und dann wusste ich nicht, wohin
     mit mir und der Omi. Ich wollte nicht sofort den Arzt und den Bestatter anrufen, denn erstens wollen die ja auch mal in Ruhe
     Weihnachten feiern und ich dachte, die Omi ist zwar tot, aber irgendwie noch dermaßen
da
, also sie soll erst mal ganz in Ruhe kalt werden, ehe sie aus ihrer Wohnung raus muss. Ich hab zu meiner Omi gesagt: ›Okay,
     ich lass dich jetzt mal ein bisschen allein, damit du hier mit allem fertig wirst, ich komme aber gleich wieder.‹
    Ich hab den Zeichenblock eingepackt und bin auf meinem schönen roten Rennrad ins Atelier gefahren. Und in Altona hab ich dann
     Paula und Paula gesehen. Sie saßen auf der kalten Straße, und Paula heulte, aber richtig laut. Sie fragte nicht mal, ob ich
     ’n paar Euro hätte, und das fand ich dann doch so ungewöhnlich, dass ich angehalten und sie gefragt hab, was los wär. Und
     Paula jaulte auf und stammelte, dass ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hätte und sie am Heiligen Abend auf die Straße gesetzt
     hätte. Das war stark.
    Das war Körperverletzung. ›Hast du niemanden, wo du hin kannst?‹, hab ich Paula gefragt, und sie hat nur den Kopf geschüttelt.
     ›Was ist denn mit deinen Eltern?‹, hab ich Paula |33| gefragt, aber da jaulte sie nur noch lauter auf und schüttelte den Kopf noch doller. Ich überlegte, ob ich Paula mit zu mir
     nach Hause nehmen sollte, ins Warme, wo von der Gans noch was übrig war. Aber dann dachte ich an meine Omi, die es ganz bestimmt
     indiskret finden würde, wenn ich in ihrem Zustand fremde Leute mit heimbrächte. Und ich selber war mir auch nicht so sicher,
     ob ich, kaum dass die Omi tot war, ein Wohnheim für Freaks aufmachen wollte. Also ja, vielleicht, in der Not, mein Gott, eine
     Nacht, aber nicht heute. Heute nicht.
    Also hab ich Paula mit ins Atelier genommen. Dort gibt es immerhin Gelegenheit, sich einen Kaffee zu kochen, eine Isomatte
     und einen Schlafsack, weil ich manchmal im Sommer über Nacht im Atelier bleibe, und ein Gemeinschaftsklo gibt es auch. Paula
     bedankte sich überschwänglich und mir war’s peinlich. Ich sagte: ›Schon in Ordnung‹, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte
     – natürlich beiden gegenüber. Der Omi gegenüber, weil ich jetzt nicht bei ihr war und ihre Hand nicht noch eine Weile hielt,
     und Paula gegenüber, weil zu Hause der beachtliche Rest einer Weihnachtsgans stand, den Paula bestimmt gut hätte gebrauchen
     können. Paula und Paula, ihr Köter. Ich hab die beiden ins Atelier gebracht, ihnen gezeigt, wie man sich mit dem Gaskocher
     einen Kaffee kocht, und dann musste ich Paula den Schlüssel dalassen, damit sie sich über Nacht einschließen kann und damit
     keiner die Bilder klaut. Ich ließ ihr also den Schlüssel da und verabredete mich mit ihr für den nächsten Tag nachmittags
     um drei, denn ich wusste ja, dass ich vormittags mit Arzt und Bestatter zu tun haben würde. Darum war ich also am Heiligen
     Abend ins Atelier gefahren: Nicht um zu malen, wie ich gedacht hatte, sondern um einem verirrten Schaf und seinem Hirtenhund
     Unterschlupf zu geben, Hallelujah.«
    |34| »Das war doch sehr nett von Ihnen.«
    »Nein, es war halbherzig, weiter nichts. Das quält mich bis heute: dass es so halbherzig war. Ich hätte Paula mit nach Hause
     nehmen müssen. Ich dachte ja die ganze Zeit an den Rest des Gänsebratens und hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich den Paula
     quasi vorenthielt. Außerdem wäre ich dann nicht allein gewesen mit der Leiche meiner Omi. Es war nämlich so, dass die Omi
weg
war, als ich nach Hause zurückkam. Also ihre Leiche saß immer noch im Sessel im Wohnzimmer, aber
sie
war weg. Die ganze Wohnung war auf einen Schlag wie entseelt. Das hatte ich mir nicht so vorgestellt. Ich spürte eine Grabeskälte
     in unserer für gewöhnlich überheizten Wohnung und von der Omi eine Art Oberbitterenttäuschung, dass ich nicht bei ihr geblieben
     war. Ich hörte in dieser riesigen Stille so etwas wie das laute Schlagen einer riesigen Tür und die
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