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Heldenzorn: Roman (German Edition)

Heldenzorn: Roman (German Edition)

Titel: Heldenzorn: Roman (German Edition)
Autoren: Jonas Wolf
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Fänge von Wabili, dem Adler, geraten ist. Je mehr sie sich gewunden hat, desto tiefer haben sich seine Fänge in sie hineingebohrt.«
    »Ja, ja«, erwiderte Dokescha mürrisch. »Und erst als sie ganz ruhig und still geblieben ist, ist sie von selbst aus seinem Griff geschlüpft. Ich kenne die Geschichte. Aber wir sind keine Mäuse, und diese Menschen sind keine Adler. Bist du denn überhaupt nicht zornig, dass sie dich gefangen haben?«
    Teriasch horchte in sich hinein. »Ich bin zornig, aber was nützt mir mein Zorn? Er wird diese Ketten nicht sprengen, er wird mir meine Kleider nicht wiedergeben, und er wird auch nicht meine Sippe hierherführen.« Er sah unsicher zur Rüsselschnauze. »Und glaub mir, es würde dir nicht gefallen, wenn mein Zorn sich Bahn bricht.«
    »Wieso nicht?«
    Teriasch schwieg einen Augenblick. Das geht ihn nichts an. Und wenn ich ihm erzähle, wie es um mich und meinen Zorn bestellt ist, wecke ich nur sein Misstrauen. »Die Welt ist, wie sie ist.« Das war eine von Pukemasus liebsten Weisheiten, mit der sie seinen vielen bohrenden Fragen über die Ordnung der Dinge begegnet war. Warum widerfuhr guten Menschen Böses? Warum blieb manchmal der Regen aus und die Herden verdursteten? Warum fiel er zu anderen Zeiten so heftig, dass er die Zelte des Lagers fortzuspülen drohte? »Auch wenn wir ihr alles schulden, schuldet die Welt uns nichts. Wir sind wie der Wind. Wir ziehen über die Welt hinweg, ohne sie je zu verändern.«
    Dokescha ächzte verdrossen. »Dann spielt es auch keine Rolle, ob die Harten Menschen uns erst verschleppen und dann töten, oder ob wir dabei sterben, wenn wir vor ihnen fliehen.«
    »Ich glaube nicht, dass sie uns töten wollen«, sagte Teriasch. »Sonst würden sie uns nichts zu essen und zu trinken geben.«
    »Vielleicht führen sie uns nur zu einem Opferstein, wo sie uns den bösen Geistern opfern wollen, die sie anbeten«, entgegnete Dokescha düster. »Und bis dahin müssen wir bei Kräften sein.«
    »Unsinn.«
    »Du kannst mir nicht beweisen, dass ich falsch liege.«
    »Stimmt. Ich kann das nicht. Er schon.« Teriasch zeigte auf den Harten Menschen, der gerade den leeren Wasserschlauch aufsammelte. »Wo bringt ihr uns hin?«
    Die sperrigen Laute der fremden Sprache kratzten in Teriaschs Hals, doch sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Der Kopf des Harten Menschen ruckte herum, und der Mann hätte beinahe den Schlauch fallen lassen. Seine Helmmaske verbarg seine Züge, doch er nahm die leicht vornübergebeugte Haltung von jemandem an, der Zeuge eines unglaublichen Ereignisses wurde. »Was?«
    »Wo bringt ihr uns hin?«, wiederholte Teriasch. Er spürte Dokescha neben sich zusammenzucken, und unter den anderen Gefangenen setzte ein heftiges Getuschel ein.
    Der Harte Mensch machte einen Schritt auf Teriasch zu. »Du bist der aus der Hütte, oder? Der, der mich fast ertränkt hat?«
    Teriasch antwortete nicht. Wir sehen für ihn alle gleich aus. So wie sie für uns alle gleich aussehen. Er erwartete einen Tritt, einen Schlag oder irgendeine andere Vergeltung seitens des Harten Menschen. Stattdessen lachte der Mann. »Du wirst einen besonders guten Preis bringen. Ich sollte Spuo sagen, dass ich mir eine kleine Belohnung verdient habe.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »So was hat man noch nie gesehen …«
    Enttäuscht ließ Teriasch den Kopf hängen. Jetzt bin ich so schlau wie vorher … Obwohl … Das hörte sich an, als ob sie uns irgendwo gegen etwas anderes eintauschen wollen.
    »Du sprichst ihre Sprache.« Dokeschas Stimme war brüchig wie das Flüstern einer Vettel, die glaubte, einen bösen Geist gesehen zu haben. »Wieso sprichst du ihre Sprache?«
    »Ich habe mit einem von ihnen in einem Zelt gelebt«, gestand Teriasch.
    »Mit einem Harten Menschen?« Dokescha wollte ein Stück von ihm fortrücken und zog ihn wegen der Ketten doch nur näher an sich heran. »Du Verräter!«
    »Es ist nicht das, was du denkst«, beteuerte Teriasch.
    »Was ist es dann?«
    »Vor sechs Sommern haben wir einen Harten Menschen auf der Steppe gefunden«, begann er zu erzählen. »Nach einem Sturm, bei dem alle schon dachten, die Geister des Winds, des Donners, der Blitze und der Wolken würden nie mehr Frieden schließen. Der Harte Mensch lag unter einer der fliegenden Echsen, die sie gezähmt haben. Sie war tot, ihr langer Hals zerknickt wie ein dürrer Ast. Er lebte. Die meisten von uns waren dafür, ihn zu töten. Pukemasu, meine Lehrmeisterin, war es nicht. Sie
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