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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter
Autoren: Jonas Wolf
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hatte sein eigenes Reich. Ein neues Reich, über das er gemeinsam mit Tschumilal herrschte.«
    »Das Elfenreich?« Der Junge verzog das Gesicht. »Aber dort war doch alles tot. Kjell kann nicht sehr schlau gewesen sein, wenn er sich so ein Reich hat andrehen lassen.«
    »Kein Land bleibt für immer tot.« Er lächelte versonnen. »Immer ist eine viel zu lange Zeit, selbst für den Tod. Und im Elfenreich hat es gar nicht lange gedauert, bis neues Leben erblühte. Tschumilal trug es in ihrem Schoß hinein, und als ihre Kinder geboren wurden – Zwillinge, wie ihr –, grünte in der Halle der Zusammenkunft die verwelkte Knospe, und der runde Stein in ihr begann wieder zu leuchten.«
    »Trotzdem.« Das Mädchen senkte den Blick.
    »Was trotzdem?«
    »Trotzdem ist es traurig. Dass manche am Leben bleiben durften und andere nicht.«
    »Meinst du Eisarn?«
    »Ja. Und Hok Gammal.«
    »Nun …« Er stockte. »Hok Gammal durfte wenigstens dort sterben, wo er immer sterben wollte. Auf dem Rücken seines Falken.« Er seufzte. »Lass den Kopf nicht so hängen, mein Kätzchen. Eisarn starb, ja, aber er brachte der Sippe, die ihn einst verstoßen hatte, die Hoffnung zurück.«
    »Aber wie das?« Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo er doch tot war.«
    »Schau dich an, du Fifl«, schalt er scherzhaft. »Da hast du gerade einmal zwölf Sommer gesehen und willst mir erklären, wie es in der Welt zugeht. Sperr die Ohren auf: Namakan hatte nicht vergessen, weshalb Eisarn seiner Mutter den Schlüssel für das Tor zur Grotte des Plagenvaters gestohlen hatte. Er ließ den Leichnam seines Freundes in die feinsten Grabtücher schlagen, die es im ganzen Reich gab, und dann sandte er ihn nach Hause. Aber nicht auf irgendeiner schäbigen Bahre, nein. Er ließ ihn auf dem Ehrenschild seiner Sippe dorthin tragen. Der Schild, den jede Sippe braucht, wenn sie neue Zwerge machen will.«
    »Das ist besser als nichts«, räumte das Mädchen ein. »Und Morritbi? Ist sie wieder aufgewacht? Ist sie heim in den Wald gegangen?«
    »Natürlich ist sie wieder aufgewacht, und ja, sie ist heim in den Wald gegangen. Sehr oft sogar, und Namakan brach es jedes Mal das Herz, wenn sie ging. Doch sie kehrte stets an seine Seite zurück. Irgendwann war sie sicher, dass die Befehle, die Namakan erteilt hatte, auch befolgt wurden. Dass man für jeden Baum, den man im Schwarzen Hain schlug, an anderer Stelle zwei neue pflanzte. Danach blieb sie länger bei ihm, aber ganz konnte sie den Wald nie vergessen.«
    »Dann war Namakan ein guter König?«, fragte der Junge lauernd.
    »Es gibt keine guten Könige«, erklärte er ernst. »Nur solche, die danach streben, gut zu sein. Und unter diesen sind diejenigen die besten, die sich eingestehen können, dass sie bei diesem Streben ab und an scheitern.«
    »Aber wurde er wenigstens alt?«, fragte das Mädchen besorgt. »Und glücklich?«
    »Alt, das ja«, sagte er. »Glücklich? Vergesst nicht: Er hatte viel Schlimmes erlebt. Er hatte sein altes Heim in Schutt und Asche liegen sehen, die Leichen seiner Lieben ringsherum verstreut. Er hatte einen Menschen getötet, bei dem Kampf auf der Brücke auf der Narbe. Er hatte Verrat erfahren, von einem Mann, der ihm lustig und freundlich erschien und dem er nur Gutes hatte tun wollen. Er war dabei gewesen, als eine uralte Elfe entschied, aus dieser Welt zu gehen. Er hatte einen Freund verloren, den er gerade erst gefunden hatte. Er musste Abschied von einer weisen Frau nehmen, die ihn noch viel hätte lehren können. Er hatte erfahren, dass seine ganze friedliche Jugend auf eine Lüge gebaut war.«
    »Dann konnte er also gar nicht glücklich werden?«, fragten die Kinder wie aus einem Mund.
    »Das habe ich nicht gesagt.« Er strich ihnen zärtlich über die Wangen, und sie ließen es gern geschehen. »Doch es gab immer wieder Zeiten, in denen er glaubte, all das Unglück, das er erlebt hatte, müsste ihn einholen und mit Haut und Haar verschlingen. Zum Glück hatte er da jemanden, der ihm den Kopf zurechtrückte. Der ihm sagte, wie man es mit Geistern aus der Vergangenheit halten muss: Man bittet sie nur kurz herein und komplimentiert sie dann rasch wieder hinaus.«
    Er schaute auf. Sie stand in der Tür des Zimmers, und wie immer, wenn er sie unerwartet erblickte, erfüllte ihn eine tiefe Dankbarkeit, auch nach so vielen Sommern.
    »Ihr müsst ins Bett«, sagte sie in diesem sonderbar strengen, milden Tonfall, den nur sie beherrschte und dem sogar er sich
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