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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind
Autoren: Heinz G. Konsalik
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werden sollte.
    »Wir haben die Aufgabe übernommen, aus ihm einen guten Sowjetbürger zu kneten. Blamieren wir uns nicht, Pjotr Alexandrowitsch … wir wollen ein Musterexemplar aus ihm machen.«
    *
    Igor Antonowitsch erhielt einen Schlafplatz im Block III, Zimmer 67 der Abteilung ›Junge Adler‹. Er teilte die ehemalige Klosterzelle mit noch drei Kriegswaisen, drei kräftigen, um einen Kopf größeren Jungen als er, die schon seit zwei Jahren im Heim lebten und deren Vater und Mutter der fortschrittliche sozialistische Staat waren. Von ihren wirklichen Eltern wußten sie wenig oder gar nichts … als sie zu Waisen wurden, gleich zum Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, spielten sie, vom Grauen unberührt, im Garten hinter dem Flechtzaun, bis die Nachbarin sie einfing und ihnen weinend erzählte, Väterchen hätten die Deutschen im Wald umgebracht, und Mamuschka hätte man abtransportiert, irgendwohin nach Westen. So oder ähnlich war es fast allen Kindern ergangen, die hier zu Männern erzogen werden sollten.
    Igor blickte sich vorsichtig um, nachdem ihm Komorow das Bett gezeigt hatte und ihn nun allein ließ. Die drei Zimmergenossen saßen auf ihren Matratzen und warteten. Ihr Blick war voll kindlicher Gnadenlosigkeit.
    Igor schwieg. Er war vorsichtig geworden, denn Komorow hatte ihm gesagt, daß die Sätze des alten Korporals eine Schweinerei seien und jeden anständigen Genossen beleidigen würden.
    Zaghaft setzte er sich auf seine Matratze und legte seinen russischen Militärbrotbeutel neben sich. Es war seine einzige Habe … ein Stück Seife, ein Taschenmesser, ein Wollschal, den er in den Trümmern Berlins gefunden hatte, zwei dicke Zwiebeln, die ihm der Sanitäter Lalikow zum Abschied geschenkt hatte, drei Verbandspäckchen und eine Spiegelscherbe. Ja, und ein Foto, ein Bild des Gardekapitäns Pjetkin, aufgenommen bei einem Urlaub zu Hause in Kischinew.
    Von Bett zwei am Fenster kletterte ein krummbeiniger Junge und schob den Kopf vor wie ein Raubvogel. Im Heim nannte man ihn ›Dolgoruki‹, den Langhändigen. Er hatte von der Natur erstaunlich große Hände mitbekommen. An Bett eins rührte sich der zweite Junge. Er war ein armer Kerl, ein wirklich gestraftes Bürschchen mit einer platten Nase und schrägen Mongolenaugen, einem Fischmaul und einem linken Arm, der vier Zentimeter kürzer war als der rechte. Man nannte ihn deshalb zutreffend, aber brutal Njelep, was soviel heißt wie ›Der Häßliche‹. Dabei war er ein kluger Kopf, der Beste in seiner Klasse, die anderen schrieben bei ihm ab.
    Zimmergenosse Nummer drei blieb auf seinem Bett hocken, kaute Sonnenblumenkerne, spuckte sie erst zwischen Wand und Matratze und dann immer gezielter Igor vor die Füße. Im Heim nannte man ihn ›Schwaßtun‹, Maulheld oder Großmaul.
    »Was hast du da?« fragte Dolgoruki und zeigte mit seinen abnormen Händen auf den Brotbeutel.
    Igor verstand ihn nicht, aber die Bewegung war klar. Er drückte seinen Schatz an sich und schob die rechte Hand unter die Klappe des Beutels.
    Njelep lachte. Sein Fischmund klappte dabei auf und zu. »Ein Idiot scheint er zu sein, meine Lieben!« rief er mit heller Stimme. »Scheint nicht zu wissen, daß wir hier alles teilen, daß wir eine Gemeinschaft echter Brüder sind!«
    »Zeig, was du mitgebracht hast!« knurrte Dolgoruki. »Es ist unsozialistisch, alles allein zu fressen und die anderen hungern zu lassen. Bist wohl ein Kapitalist gewesen, he? War Väterchen etwas Höheres? Haha, seht nur seine Finger an. Er hat nie gearbeitet, wette ich, nur Milch getrunken und Honig geleckt. Gib her, Idiot!«
    Dolgoruki griff nach dem Brotbeutel. Mit einem Ruck riß ihn Igor zur Seite, die langen Finger griffen ins Leere. Njelep lachte meckernd und massierte seine dicke, krumme Nase.
    »Er wehrt sich!« rief er fröhlich. »Er will eine Tracht Prügel haben! Freunde, schmückt ihm seinen Körper mit blauen Tupfen! Was ist mit dir, Schwaßtun? Machst du mit?«
    »Ich warte ab«, sagte das Großmaul und kaute an seinen Sonnenblumenkernen. »Wenn ich mich an ihm vergreife, fällt er doch in Stücke.«
    Igor Antonowitsch dachte an Kapitän Pjetkin. »Gib nie nach, Söhnchen«, hatte er in der Nacht vor dem Abtransport gesagt. »Wehre dich, auch wenn du am Boden liegst und man dich in die Erde stampft. Sei nie ein Feigling. Denk daran, wo immer du auch sein wirst, daß ich stolz auf dich bin.«
    Mit einem Ruck riß Igor seine rechte Hand aus dem Brotbeutel, warf ihn nach hinten an die
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