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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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genehmigt, er nimmt das Leben nicht so schwer, obwohl er immer so sanft scheint, als könnten die Ereignisse ihn verformen.
    Manchmal, wenn sie Mecnun ansieht, erinnert Gül sich an Rafa und fragt sich, was aus ihm geworden ist, diesem kleinen spanischen Jungen, mit dem sie in ihren ersten Tagen in Deutschland auf der Straße Beştaş gespielt hat. Nie wird sie erfahren, dass Rafa in Marburg Soziologie studieren und nach dem Studium nach Madrid ziehen wird, um dort bei einer Presseagentur zu arbeiten. Nie wird sie erfahren, dass auch er sich manchmal an sie erinnert und sich wünscht, ihr noch einmal zu begegnen, dieser Frau, die in seiner Erinnerung immer |275| diese junge propere Person bleiben wird, deren Lächeln so warm und herzlich war, als würde sie mit ihren Lippen seinen ganzen Körper umfangen. Fast jedes Mal wird er beim Wort
abrazo
an Gül denken, obwohl sie ihn selten umarmt hat, und sich fragen, ob auch andere Menschen so beständige Assoziationen haben.
    Ceren ist schwanger, mein Vater wird alt, ich sehe meine anderen Enkel nicht aufwachsen, wenigstens dieses Kind möchte ich um mich haben, denkt Gül, als sie frierend im Bus sitzt und zurückfährt.
     
    Erst im Frühling fasst sie den Entschluss abzunehmen. Das Gewicht behindert sie nur noch, die Hausarbeit fällt ihr schwer, und immer schneller gerät sie außer Atem. Sie folgt einer Diät, die sie von einer Nachbarin hat. Jeden Morgen nimmt sie einen Esslöffel Essig auf nüchternen Magen, um Fett zu verbrennen, und dann isst sie zwei hartgekochte Eier zwanzig Minuten vor jeder Mahlzeit. Statt Zucker tut sie Süßstoff in den Tee, es gibt keine Baklava mehr und keine Butter, zum Essen kein Brot und keine Zwischenmahlzeiten.
    Bereits nach einer Woche mag sie keine Eier mehr sehen, aber sie hält tapfer durch. Und als sie mal wieder ein Ei pellt, klopft es an der Tür, und draußen steht Aysel. Die beiden fallen sich in die Arme.
    – Ich wollte dich überraschen, sagt Aysel, und Gül meint:
    – Das ist dir gelungen. Willkommen, mein Herz, was machst du hier?
    – Ach, frag nicht, ich musste hierher, wo ich gemeldet bin, wegen dieser Scheidungssache. Ich habe ja ein wenig Angst, in zwei Jahren werden sie ihn entlassen, und dann wahrscheinlich direkt hierher abschieben, und er wird seine Wut an mir auslassen wollen. Die Wut, die sich in diesen engen Wänden aufgestaut hat.
    |276| – Ich mache uns erst mal etwas zu essen, du hast doch Zeit? Du bist ja ganz mager geworden in Istanbul, bekommt dir das Leben dort nicht?
    Sie gehen gemeinsam in die Küche, wo Gül die gepellten Eier in den Kühlschrank legt und anfängt, Auberginen zu schneiden, um sie anzubraten.
    – Was soll ich schon sagen? Istanbul. Eine große Stadt. Sie kann einen Menschen bei lebendigem Leib verschlingen. Aber wenigstens habe ich Arbeit, auch wenn es kaum für die Miete und den Minibus reicht.
    – Was für Arbeit denn?
    – Putzen. Jeden Tag woanders. Morgens um sechs stehe ich auf, und abends bin ich um sieben oder acht wieder daheim. So haben wir nicht mal in Deutschland gearbeitet. Hier ist es kein Akkord, und niemand hetzt dich, aber mein Leben vergeht in den Häusern der Reichen. Ich kann niemandem empfehlen, nach Istanbul zu gehen, egal, wie viele Anatolier dort sind. Dieser Verkehr, diese weiten Wege, diese vielen Menschen, es braucht dich keiner auf Trab zu halten, du kommst auch so nie zur Ruhe. Wie gerne wäre ich zur Hochzeit gekommen, aber ich habe einfach nicht genug Zeit, du kannst dir ja nicht einfach so Urlaub nehmen, die Herrschaften suchen sich dann gleich jemand Neuen, wenn du Pech hast. Ach, Gül, Gott seis gedankt, ich habe Arbeit, und ich werde jeden Tag satt.
    – Ja, sagt Gül, danken wollen wir. Auch wenn du nicht so aussiehst, als würdest du wirklich genug essen.
    Die nächsten Stunden unterhalten die Frauen sich über andere Dinge, über Romane, die Gül gelesen hat, Serien, die Aysel verfolgt, sofern die Hausherren nicht daheim sind, den Klatsch aus der Nachbarschaft, die Istanbuler Kinder, die Verdünner schnüffeln, die Zeiten in Deutschland, wie sie kaum ein Deutsch Wort sprechen konnten und dass sie das wenige, was sie konnten, auch schon vergessen haben. Gül erzählt |277| von Saniye und Yılmaz und wie Saniyes Sohn plötzlich wieder auftauchte und dass es sie interessiert, was der Junge wohl jetzt macht.
    Die langjährigen Freundschaften aus Deutschland wiegen weniger als die Verwandten in der Türkei, ist man zurück, verliert man sie aus
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