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Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)

Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)

Titel: Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
Autoren: François Lelord
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können, zumal Olivia psychisch ansonsten in einem sehr guten Zustand war.
    Er vergrößerte also, wie üblich bei Patienten, denen es besser ging, die Zeitabstände zwischen den Terminen. Bei Olivia hatte er es ein bisschen bedauert, denn eine hübsche Patientin, die man geheilt hat, sieht man viel lieber wieder als ein Monster, dem es immer schlechter geht und das im Sprechzimmer zu ächzen und zu wimmern anfängt. Aber so läuft es nun mal in diesem Beruf: Man ist dafür da, die Leute dann zu behandeln, wenn es ihnen schlecht geht.
    »Ich habe das Gefühl, dass ich von Anfang an auf dem Holzweg war«, sagte Olivia, »und dass es jetzt zu spät ist.« Und dabei schaute sie Hector mit einem dramatischen Gesichtsausdruck an.
    »Wie meinen Sie das?«
    Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass Hector eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten pflegt. Das ist eine Grundtechnik in seinem Beruf – zunächst einmal, um den Patienten zu verstehen, aber vor allem auch, um ihm zu helfen, sich selbst zu verstehen.
    »Nun, alles, woran ich geglaubt habe – Freiheit, Unabhängigkeit, Kunst, Einsatz für die Gesellschaft!«
    »Die Ideale Ihrer Jugendjahre also?«
    »Genau«, sagte Olivia mit einem charmanten Auflachen.
    Sie konnte sich über sich selbst lustig machen, was ein Zeichen geistiger Gesundheit ist.
    »Aber glauben Sie denn nicht mehr an diese Ideale?«
    »Doch, natürlich. Aber ich frage mich, was sie mir gebracht haben.«
    »Sind Sie mit Ihrem gegenwärtigen Leben nicht zufrieden?«
    Olivia sagte ein paar Sekunden lang nichts; zuerst schaute sie Hector an, dann spielte sie nervös mit ihrem exotischen Armband herum, das, wie Hector festgestellt hatte, aus Tibet kam.
    »Verdammt noch mal, ich rede nicht gern darüber, aber schauen Sie sich doch mein Leben mal an!«
    »Ich habe den Eindruck, dass Sie es sich genau so ausgesucht haben …«
    »Das ist es ja gerade!«, rief Olivia aus.
    Und als hätte man ein Ventil geöffnet, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus: »Verstehen Sie denn nicht? Ich habe mich für den Lehrerberuf entschieden, weil ich dachte, den Kindern die Kunst nahezubringen sei das beste Mittel, um bessere Erwachsene aus ihnen zu machen – gerade hierzulande, wo die Kunsterziehung in den Schulen ein Schattendasein fristet.«
    »So ist es«, sagte Hector, »aber gefällt Ihnen diese Idee nicht mehr?«
    »Heute verbringe ich meine Zeit vor Bürgersöhnchen und Bürgertöchtern, die wiederum ihre Zeit damit verbringen, heimlich ihre Smartphones zu checken .«
    »Gibt es denn keine Ausnahmen?«
    »Doch, aber weil ich an einem feinen Gymnasium unterrichte, stehen diesen Ausnahmen schon zu Hause Kunst und Kultur offen! Was kann ich denn da noch bewirken?«
    Hector sagte sich, dass Olivia wahrscheinlich mehr bewirkt hatte, während sie als ganz junge Lehrerin an den sozialen Brennpunkten unterrichtet hatte.
    Sie hatte seine Gedanken erraten: »Natürlich könnte ich um meine Versetzung in einen Problemvorort bitten (meine Kolleginnen würden mich für übergeschnappt halten), aber dieses Opfer habe ich doch schon mal gebracht, und überhaupt wäre es heute dort das Gleiche in Grün – die gleichen Smartphones …«
    »Und haben Sie schon mal ins Auge gefasst, den …«
    Aber Olivia war nicht mehr zu bremsen: »… und außerdem ist mir mittlerweile klar, wie wichtig Geld ist!« Sie erklärte, dass man sich mit fast vierzig (genau genommen war sie 42   Jahre alt) ein komfortableres Leben zu wünschen beginne. Inzwischen sei sie ungeschminkt und in Jeans nicht mehr besonders hinreißend; sie habe jetzt Lust auf Kosmetika und elegante Kleidung, aber mit einem Lehrergehalt könne sie sich das alles nicht leisten, es sei denn, sie verzichte auf ihre Reisen, aber wofür solle sie dann überhaupt noch leben, und schließlich halfen ihr die Reisen, den Rest des Jahres zu überstehen.
    »Haben Sie schon darüber nachgedacht, ob …«
    Ihre Redeflut war nicht aufzuhalten: »Und mein Liebesleben erst! Ja, ich werde noch immer angebaggert – natürlich nicht mehr so oft wie früher –, aber die Männer, die mich interessieren, sind meistens schon unter der Haube. Und kommen Sie mir bloß nicht mit Ihrem Psychozeugs über meinen neurotischen Hang zu Männern, die nicht mehr zu haben sind! Es stimmt leider einfach, dass die guten Männer in meinem Alter alle schon einen Ehering tragen! Davor hat mich früher meine Mutter immer gewarnt, und damals fand ich das total lachhaft! Heute habe ich den
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