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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter
Autoren: Heinrich Böl
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Gesicht. Die Transportarbeiter jaulten, und der Fahrer stieg ins Fahrerhaus und hupte, hupte heftig: Offenbar hatte er ein Streichholz in den Hupenknopf gedrückt, denn das Hupen ertönte immerwährend: immerwährendes Signal der Verdammnis, und unten kicherten die Säue. Albert kam sehr schnell die Treppe herauf, er erkannte den Schritt, erkannte auch Martins Stimme, der
    »Heinrich« rief, »Heinrich, was ist denn los«, aber er drehte sich nicht um,
    hielt auch Wilma zurück, die sich losreißen und Martin entgegenlaufen wollte. Er rührte sich nicht einmal, als Albert seine Schulter berührte. Er konnte nicht glauben, daß er nicht allein würde die Treppe hinuntersteigen müssen. Es gelang ihm, die Tränen zurückzuhalten. Dann wandte er sich schnell, blickte erst Albert ins Gesicht und sah sofort, daß Albert begriff — der einzige, der so etwas begreifen konnte, und er beobachtete Martin scharf, der zum Fenster hinaus auf den Lastwagen sah, er beobachtete genau, wie Martin diese plötzliche und endgültige Offenbarung ihres Elends registrierte, und er war erstaunt und erleichtert, zu sehen, daß Martin nicht begriff, und es fiel ihm ein, daß Martin ein Kind war, eins von denen, von denen gesagt wurde: Wenn ihr nicht werdet wie sie. Es war gut, daß Martin nicht begriff, wie es gut war, daß Albert begriff. Martin war sehr erstaunt und sagte: »Zieht ihr um?« »Ja«, sagte Heinrich, »wir ziehen zum Bäcker, heute noch«, und jetzt begriff Martin, und sie dachten beide an das Wort. Sie blickten nach oben, wo jetzt Albert mit der Mutter, mit dem Bäcker, mit Frau Borussiak und dem Tischler sprach, und es kam ihnen nicht komisch vor, daß Brielachs Mutter an Alberts Brust weinte, sich dann aufraffte und Arm in Arm mit Albert die Treppe herunterkam.
    »Komm«, sagte Heinrich, »wir gehen schon runter.« Martin nahm Heinrichs
    Ranzen, und Heinrich hob Wilma auf den Arm, und er blickte, Stufe um Stufe langsam hinuntergehend, der Milchhändlerin ins Gesicht, fest blickte er in die großen, dunklen, spöttischen Augen, er blickte sogar Bresgens an, vier Säue, die dicht nebeneinander standen. Runde, fette Gesichter, die
    sich stumm malmend bewegten, und er erblickte hinter der Schulter der
    Milchhändlerin den, mit dem sie unmoralisch war: Hugo hieß er, und Hugo stand kauend im Hintergrund und zupfte sich gerade den Schwanz einer Sprotte aus dem Mund. Die Säue senkten den Blick, die Milchhändlerin hielt stand, und der Kassenbote flüsterte sogar: »Willst du mir nicht adieu sagen, Heinrich?« Aber er gab dem Kassenboten keine Antwort Ȭ und hinter sich hörte er die Fußtritte der Teilnehmer des Triumphzuges: Albert, der mit seiner Mutter zu lachen schien, Frau Borussiak mit dem Tischler und zuletzt den Bäcker; und die Milchhändlerin flüsterte höhnisch: »Sieht ja fast wie ȇ ne Hochzeitsgesellschaft aus.« Stumm schmatzte Hugo, golden schimmerte eine zweite Sprotte, die er zum Munde führte. Schon sah er unten das helle Licht, das durch die offene Tür fiel, und er spürte, daß er mit den Gedanken noch nicht ganz bei diesem Triumphzug war, sondern oben stand, verdammt zwischen den Säuen und der Feigheit des Bäckers. Unvergeßlich würde ihm die Erinnerung an den Blick auf den offenen Lastwagen sein, das Gefühl der Verdammnis, während unten die Hupe auf immerwährend gestellt war. Schon ein paarmal hatte Martin etwas gefragt, aber er hatte nicht geantwortet, weil er noch weit weg oben am Fenster stand, und er wußte nur, daß Albert begriffen hatte und auch Martin, und beide das, was sie begreifen mußten. Der Blick in Alberts Augen, diese Tausendstelsekunde, und Martins Begreifen im Augenblick hatten ihn vor der Verdammnis bewahrt.
    »Nun sag doch«, fragte Martin ungeduldig, »bleibt ihr für immer beim Bäcker?«
    »Ja«, sagte Martin, »für immer. Wir ziehen doch dorthin.« Immer noch pfiffen draußen die Transportarbeiter, und der Bäcker hatte plötzlich wieder Mut in der Stimme, Mut und Zuversicht. Der Bäcker rief: »Ja, wir kommen schon.« »Komm«, sagte Albert hinter ihm, »komm in den Hof, du fährst mit uns, auch Wilma.«
    Er drehte sich erstaunt zur Mutter um, aber die Mutter lächelte und sagte:
    »Ja, es ist besser. Ihr kommt am Sonntagabend mit Herrn Muchow zurück. Bis dahin haben wir alles eingerichtet. Ich danke Ihnen sehr«, sagte sie zu Albert, aber Albert nickte nur stumm und sah sie merkwürdig an: Glanz der Hoffnung war im Blick der Mutter. Verheißung, für einen Augenblick
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