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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition)
Autoren: Florian Tietgen
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uns wieder fahren.«
    Er schüttelt den Kopf. »Wir müssen hier bleiben.«
    »Was passiert, wenn du dich widersetzt?«
    Darius streckt seinen Arm zu mir, das Besteck verrutscht, eine Falte zieht sich in das weiße Tischtuch. »Ich widersetze mich nicht. Ich möchte etwas vom Aloisiushaus.«
    »Wovor fürchtest du dich dann?«
    Er nimmt unsere Tassen, geht, als wäre er gelassen, zum Buffet und bedient sich am Kaffee.
    Ich atme tief durch, warte, bis er zurückkommt, atme ein weiteres Mal, löse meine übereinandergeschlagenen Beine, stelle die Füße fest nebeneinander auf den Boden, atme ein drittes Mal, warte auf eine Antwort.
    »Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn es meinen Wunsch erfüllt.
    »Was erwartest du?«
    Er gibt ein bisschen Zucker in eine der Tassen, gießt etwas Milch hinein, ohne zu fragen. Er kennt meine Gewohnheiten. »Ich möchte alt werden und irgendwann sterben dürfen. Ganz in Ruhe und Freiheit.«
    »Mich hat es freigegeben«, sage ich, während er die Tassen auf ein kleines Tablett stellt. »Ohne Drohung, nachdem ich mich entschieden hatte. Warum kannst du dich nicht neu entscheiden?« Einen Moment lang horche ich. Donnert es? Rumpelt es über uns? Bricht das Haus zusammen?
    Darius stellt das Tablett mit den Tassen vor uns, setzt sich wieder, immer noch gerade, angespannt. »Es kann uns trennen«, antwortet er, trinkt einen Schluck, setzt die Tasse ab und sieht mich wieder an. »Ich finde, das ist schlimm genug.«
    So viel Angst? War es nicht ich, der ihm misstraute, er könnte mich wieder verlassen? Und fühlte nicht ich mich in dieser Angst schon lächerlich, auch wenn ich sie nicht los wurde?
    Langsam wird mir warm, langsam löst sich meine Spannung. In diesem Haus haben wir frei unser Glück genossen, nackt miteinander gespielt und geschlafen, ohne uns dabei beobachtet zu fühlen. Jedenfalls habe ich mich nicht beobachtet gefühlt. In diesem Haus haben wir unser Vertrauen ineinander vertieft, bis Darius es verraten hat. Ich kann es nicht als bedrohlich erleben, so sehr mich die Zaubershow beeindruckt, so sehr mein Freund auch zittert. Wenn wir bleiben, wenn Darius partout nicht gehen will, muss ich meine Jacke ausziehen, mich an dem reichhaltigen Buffet bedienen und etwas essen. Wenn uns das Haus einlädt, will ich mich wie zu Hause fühlen.
    »Darius«, sage ich, während ich aufstehe und mir ein Brötchen, Butter und etwas von dem Rührei auf einen Teller nehme. »Im Moment sind wir zusammen. Das Leben wird uns trennen – irgendwann. Aber bis dahin sind wir zusammen. Und es ist unsere Entscheidung, ob es so bleibt.«
    Er folgt mir, bedient sich ebenfalls. »Du kannst meine Angst nicht verstehen, oder?«
    »Nein. Vielleicht fehlt mir der Begriff von Ewigkeit.«
    Wir setzen uns wieder, essen jeder einen Bissen. Das Ei schmeckt großartig, die Brötchen sind warm, als kämen sie gerade aus dem Ofen. Die Butter schmilzt darauf und durchzieht sie mit ihrem sanften Aroma. Sogar Darius sitzt bequemer auf seinen Stuhl, während er isst.
    »Das hat mit Ewigkeit nichts zu tun«, antwortet er. »Ich bin schon jetzt in einem Alter, das wir als Menschen nie erreichen. Ich habe Angst, dass …« Er schaut sich hektisch um, die gerade beim Essen gefundene Entspannung verfliegt für einen Moment. »… wenn es mich freigibt …« Doch dann lehnt er sich zurück, als hätte er sich eines Besseren besonnen. »Vielleicht muss ich einfach mehr erzählen. Da du dich ohnehin wieder erinnerst – was das Haus bestimmt nicht vorgesehen hatte – kann ich auch von ihm erzählen. So hältst du mich wenigstens nicht für verrückt.«
    Ein Satz, gegen den ich mich noch nie wehren konnte, der jedes Mal mein Erbarmen beschwört. Erbarmen, das Darius gar nicht nötig hätte. Natürlich halte ich ihn nicht für verrückt. Vielleicht, wenn mir die Heuschrecken nicht in den Sinn gekommen wären, wenn nicht nach über fünfzig Jahren der Wolpertinger in meine Erinnerung gestiegen wäre, wenn ich nicht in diesem Haus sitzen würde, von dem ich keine Ahnung mehr hatte, bis Darius wieder in meinem Leben Platz genommen hat, würde ich ihn für verrückt halten. Aber dann säße er nicht hier und könnte sich darüber Gedanken machen.
    »Hast du davor Angst?«
    »Nein. Ich weiß, du glaubst mir.«
    Jetzt erst zieht Darius seine Jacke aus, ein Ärmel fällt dabei auf das gebratene Würstchen auf seinem Teller, saugt einen Fettfleck an. Nachdem er die Jacke über den Stuhl gehängt hat, schaut er sich um, geht zur Tür,
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