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Hartmut und ich: Roman

Hartmut und ich: Roman

Titel: Hartmut und ich: Roman
Autoren: Oliver Uschmann
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jetzt davon, Flaschenpfand einzusammeln. Es kommt ihm zugute, dass heutzutage jeden Abend irgendwo eines dieser alternativen Konzerte stattfindet, bei dem junge Menschen auf dem Parkplatz kleiner Clubs oder umfunktionierter alter Industriehallen stehen, saufen und sich ansehen, welche Bands die anderen auf ihr T-Shirt gedruckt haben. Jochen hält nichts von diesen Sachen, er kauft ausschließlich Original-Musikkassetten auf Flohmärkten, weil er findet, dass es ein ganz anderer Ansatz sei, wenn man sich einfach mal vorstelle, man hätte gar kein Geld für Musik und es gäbe auch kein Radio und man wäre in irgendeiner armen Stadt in Südafrika, und dann fände man eine Kassette für ein paar Cents. Dann wäre einem egal, ob das Mozart sei oder Metallica oder U2 oder gar Volksmusik. Man würde alles zu schätzen wissen, und darauf käme es doch letztlich an, etwas zu schätzen zu wissen.
    Als wir die vierte Trinkhalle passieren, sagt Hartmut »Jetzt reicht’s aber!«, rennt hinüber und kommt mit einem ganzen Kranz Wassereis wieder. »Das kann man ja nicht mit ansehen!«, sagt er, und ich nehme mir Waldmeister und Kirsch. Ich frage mich, was ich nachher hier erleben werde. Das typisch samstägliche Event stünde wieder an, hat Hartmut gesagt. Ich könne ihn und Jochen als eingespieltes Team erleben, aber vorher solle ich mir unbedingt seine Filmsammlung ansehen, betont Hartmut jetzt zum siebten Mal. Das ist so ein weiterer Spleen, den Jochen hat und der ihn Hartmut so ähnlich macht. Er sammelt und interpretiert Filme. Aber nicht etwa Hitchcock oder Godard oder irgendwelche polnischen Kunstregisseure, über die man sonst so ganze Ordner mit Deutungen vollschreiben könnte. Nein, Jochen sammelt B- und C-Filme aus der Videothek, VHS-Originale mit Hülle, Actionreißer mit Jeff Wincott, Michael Dudikoff oder anderen Heroen, unsägliche Horrorfilme, Prügelstreifen, bei denen oben das Mikro ins Bild hängt. Er ist fest davon überzeugt, es bei diesen Produktionen mit einer rundum unterschätzten Kunstform zu tun zu haben. »Das ist genial«, sagt Hartmut und schlürft an seinem Wassereis. »Jochen sieht darin die ›Selbstinszenierung des Films als Film‹, verstehst du? Bei Hollywood musst du den Kindern immer sagen, dass da niemand in echt stirbt, während du selbst vor Schmerzen zuckst, weil da jemand hyperrealistisch die Bombensplitter in die Hand genagelt bekommt oder dem Soldat ein Bein wegfliegt. Das vergisst du doch nicht. Da bist du doch voll drin, wie ein Zeuge. Aber bei den Trash-Filmen, da kannst du die Rampen sehen, über die die Autos springen, und du siehst, wie einer schon zurückfliegt, kurz bevor die Faust ihn getroffen hat, und die Schauspieler spielen so schlecht, dass man das Spielen als Spielen wahrnimmt. Der Film zeigt auf sich selbst und sagt, dass er ein Film ist. Nicht durch so blöde Ironie, sondern durch ernsthaftes Schlecht-Sein. Da hat Jochen Recht, das ist doch ganz ganz groß, das … oh, wir sind schon da!«
    Wir stehen vor einem alten Mietshaus in einer Straßenschlucht, die auf beiden Seiten von lückenlosen Häuserreihen gesäumt wird. Nur schräg gegenüber gibt es eine kleine Pizzeria mit einem Hinterhof und einer Mauer, die zu einem Wall führt. Am Ende der Straße, wo die Schlucht den Stadtring trifft, ist eine Barriere aufgebaut, und ein paar Polizisten versammeln sich und machen Small Talk wie Fußballspieler drei Stunden vor dem Anpfiff. Ich frage mich, ob der Samstag bei Jochen doch nicht so gemütlich wird, wie ich erhoffe. Der Türsummer geht, und wir klettern hoch.
    Jochen wohnt im vierten Stock, hoch oben über der Straße. Die Balkontür steht auf, und die sommerliche Brise weht herein. Jochen trägt gerade einen Bierkasten auf den Balkon und ächzt dabei vergnügt. »Hallo, ihr beiden!«, ruft er. Die Wohnung ist relativ klein, und wir stehen bei der Ankunft direkt im Wohnzimmer. Vorne steht tatsächlich eine Schrankwand mit dem Fernseher und endlosen Reihen originaler Videohüllen mit bunter Schrift auf schwarzem Einband. Geradeaus sieht man in die Küche. In einer Ecke stehen Kisten und große Müllsäcke mit Pfandflaschen. Es müssen Hunderte sein. »Das ist mein Mitbewohner mit dem Wassereis, das ist Jochen!«, lacht Hartmut, und ich grinse und reiche Jochen die restlichen Lutschstangen, auf dass er sie ins Eisfach legen möge. »Geht’s heute zur üblichen Zeit los?«, fragt Hartmut, als Jochen gerade mit dem Kopf im Eisfach steckt. »Hmmm«, tönt es aus dem Fach,
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