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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast
Autoren: Sandra Lüpkes
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ganz arme Schlucker und haben aus schierer Verzweiflung begonnen, kleine Boote und Schiffe zu bauen. Ursprünglich stammen sie aus dem Ruhrgebiet und waren an der Entwicklung der ersten Dampfmaschinen zur Förderung von Erz beteiligt.»
    «Danke für diesen wundervollen Vortrag», konnte sich Carolin nicht verkneifen.
    Doch Leif erzählte ungerührt weiter. Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, wenn er über ein Thema recherchiert hatte. «Heinrich Schmidt-Katter aus Duisburg war einer der Demonstranten, die sich im Ruhrpott als Erste für die soziale Absicherung von Arbeitern einsetzten. Soweit man es noch nachvollziehen kann, hat er damals wegen seines Engagements den Job verloren und kam mit Frau und fünf Kindern hierher in den Nordwesten. Eine Story, mit der sich die Aktiengesellschaft heute noch gern brüstet.»
    «Kann ich mir vorstellen.»
    «Ludger Schmidt-Katter ist in der fünften Generation hier in Leer. Einundfünfzig Prozent der Firmenaktien liegen in der Familie. Der Posten des Vorstandsvorsitzenden wird in dieser Firma anscheinend noch immer vererbt. Ebenso das Image des einfachen Arbeiters, der sich für Gerechtigkeit einsetzt. Aus diesem Grund konnte die Werft nicht einfach verlegt werden. Einige tausend Menschen hätten ihren Job verloren oder umgesiedelt werden müssen. So etwas kann ein Schmidt-Katter nicht machen.»
    «Ohne seine Glaubwürdigkeit nicht völlig zu verlieren», schlussfolgerte Carolin. Leif nickte und stellte das Diktiergerät ab.
    «Ich habe Schmacht!» Carolin hielt sich schon seit etlichen Minuten an einem Glas Wasser fest, dadurch war die Trockenheit in ihrem Mund noch erträglich, doch ihr Magen begann allmählich Alarm zu schlagen. «Wann kommt endlich dieser Perl?»
    «Du bist hier, um zu arbeiten, und nicht wegen der Schnittchen!», sagte Leif nur. «Es gibt sicher das eine oder andere hier zu entdecken. Ich werde auch gleich auf die Jagd nach Interviews gehen.»
    «Ich hasse es, wenn ich beim Fotografieren so dermaßen unpraktische Kleidung tragen muss!» Carolin blickte an sich herunter. Das schwarze Kleid war sicher elegant, aber es hatte nicht eine einzige Tasche, in die man eines der tausend Dinge hätte verstauen können, die sie sonst immer in der Hose unterbrachte. «Aber wenn du mein Handy nimmst, dann habe ich ein bisschen mehr Platz in meiner Kameratasche und kann freier hantieren.»
    «Mach ich doch gern», sagte Leif und steckte ihr Telefon, welches Carolin ohnehin nur sehr selten brauchte, in die Tasche seines Jacketts.
    Carolin nahm ihre Nikon und lief die Fensterwand entlang, machte Fotos von der einbrechenden Nacht, die das schon bei Tageslicht graue Werftgelände immer farbloser werden ließ. Die letzte Nacht der
Poseidonna
im sicheren Mutterleib der Schiffbauindustrie. Der Beginn ihres Lebens würde morgen gefeiert werden. Und gleich zum Anfang würde sie eine der schwierigsten Passagen zu bestehen haben. Carolin hatte sich von Leif in allen Details die Strecke erklären lassen: Erst einmal muss das dreihundert Meter lange Schiff den engen Leeraner Industriehafen verlassen. Millimeterarbeitauf dem Wasser, denn noch bevor die
Poseidonna
die mächtige Dockschleuse passiert, wird sie eine enge Drehung um sich selbst machen, ein nettes Tänzchen im eigens dafür vergrößerten und vertieften Hafenbecken, bis die schmale, aber ebenfalls ausgebaggerte Leda gerade vor ihnen liegt. Oder besser: hinter ihnen. Denn die
Poseidonna
wird die ganze Flussstrecke im Rückwärtsgang bewältigen. Das Manöver im Werfthafen macht nur einen winzigen Teil der Gesamtstrecke aus, doch es wird dem Kapitän und der Crew bereits einige Liter Schweiß kosten. Die Ems, der eigentliche Strom, der sie zur Nordsee bringt, liegt nur zwei Kilometer weiter westlich. Wo die Leda in die Ems mündet, bei Leerort, muss das Schiff wieder im spitzen Winkel wenden. Hier hatte man im Vorfeld etliche Quadratmeter des Uferlandes abgetragen, damit ein solches Manöver überhaupt durchzuführen war. Auf diesem Teil der Strecke erwartet man, neben der Abfahrt in Leer und der Ankunft in Eemshaven, die größte Zuschauermenge. Denn nur fünfhundert Meter nach Einschiffen in die Ems muss die Schmidt-Katter-Brücke passiert werden, die zu diesem Zweck von zwei Hochleistungskränen abmontiert wird. Nicht weniger spektakulär folgt der Ozeanriese danach dem Lauf der Ems, vorbei am Bingumer Sand, dessen Untiefen durch das aufgestaute Flusswasser nur schwerlich auszumachen sind. Hier müssen die
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