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Guten Morgen, Tel Aviv

Guten Morgen, Tel Aviv

Titel: Guten Morgen, Tel Aviv
Autoren: Katharina Hoeftmann
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Sozialismus einher, den viele Neu-Israelis in Kibbuzim realisieren wollten. Doch während dieser längst flächendeckend dem amerikanischen Kapitalismus gewichen ist, ist die Angst, ein »Talmudjude« zu sein, geblieben. Die tiefe Furcht vor Unterdrückung. Selbst israelische Politiker verhalten sich dementsprechend: »Wir sind keine Freier. Wir geben nichts, ohne etwas zu bekommen«, sagte Benjamin Netanjahu einst.
    Die Freier-Angst ist längst im israelischen Alltag angekommen. Wichtigster Bestandteil des Freier-freien Lebens ist übrigens die Nutzung von »Kombina«. Kombina nennen die Israelis Abkürzungen jeder Art. Wenn sie etwas schneller, billiger oder unkomplizierter bekommen können. Wenn sie nicht der Trottel sind, der sich hinten anstellt.
    Interessanterweise ist das Freier-Phänomen das Einzige, worin sich Amerikaner und Israelis komplett und bewusst unterscheiden, wie ich neulich von Freundin R. aus San Francisco lernte: »In Amerika bist du ein Freier, wenn du deine Stereoanlage aus irgendeinem Kofferraum in der Vorstadt kaufst. In Israel bist du es, wenn du nichts von diesem Kofferraum gewusst hast.«

Ich, Es und Über-Ich
    Ich fühle mich in Israel manchmal nicht wie ich selbst. Das liegt an verschiedenen Dingen.
    Vor einigen Tagen fuhr ich mit dem Fahrrad die sehr große Straße Ben Yehuda in Tel Aviv entlang. Das hat auch deshalb eine gewisse Symbolik, weil dieser Weg mich zu meinem Sprachkurs führt und Eliezer Ben-Yehuda der erste Mensch war, der im Alltag Hebräisch gesprochen hat. Niemand in seiner Familie sprach die damalige Sakralsprache, als er beschloss, nur noch Hebräisch zu sprechen. Wahrscheinlich war der Rest der Familie froh, als sie den verrückten Alten nicht mehr verstehen konnten. Ich finde es in Israel auch oft sehr entspannend, einfach abzuschalten und die vielen Diskussionen um mich herum zu einem Geräuschebrei werden zu lassen. Niemand sollte sich jedoch von dieser vordergründigen Ruhe täuschen lassen, denn in mir brodelt es.
    Das erste Mal, als mir dies klar wurde, war also auf der Ben-Yehuda-Straße.
    Man muss dazu wissen, dass Fahrradfahrer in Tel Aviv von anderen Verkehrsteilnehmern gerne übersehen werden. Viele Israelis fahren auch erst seit wenigen Jahren auf Zweirädern durch die Stadt, und dementsprechend schwanken und wackeln sie auf den Gehwegen. Ich habe mich schon mehrmals für Stützräder ausgesprochen, aber das israelische Volk ist stolz. Wenn man aber nun wie ich seit frühesten Kindheitstagen auf dem Bock sitzt, kann man nicht wie alle anderen auf dem Fußgängerweg gurken. Und da es keine Fahrradwege gibt, bleibt nur der Weg auf die Fahrbahn.
    Auf den israelischen Straßen verwandele ich mich jedoch zusehends in Rumpelstilzchen. Vor einigen Wochen brüllte mich ein dunkler Haarschopf aus einem Beifahrerfenster an. Wahrscheinlich wollte er, dass ich von der Straße verschwinde, vielleicht war es aber auch ein Kompliment, das weiß man hier nie. Um auf Nummer sicher zu gehen, zeigte ich ihm meinen Mittelfinger und schrie nicht wiederholbare deutsche Wörter zurück. In Deutschland hätte ich mich in Grund und Boden geschämt für eine solche Aktion, hier wird mir dafür Respekt entgegengebracht. Mein Widersacher reagierte fröhlich lachend. Gestern dann nahm mir ein Taxifahrer die Vorfahrt. Angestachelt verfolgte ich ihn durch die halbe Stadt. Als er endlich anhielt, raste ich an sein Beifahrerfenster und schlug wild gegen die Scheibe. Das Ganze untermalte ich wiederum mit deutschen Nettigkeiten und israelischer Gestik. Ich bilde mir ein, seine Reaktion war ein anerkennendes Nicken.
    Ich verwandle mich aber nicht nur in ein triebgesteuertes deutsch-israelisches Rumpelstilzchen. Neulich war ich auch mal eine orthodoxe Frau. Anlass dafür war ein Treffen mit dem Chefrabbiner einer Synagoge in Tel Aviv. Es handelte sich dabei um eine orthodoxe Synagoge, und mein Über-Ich bestand auf Einhaltung des Dresscodes. Also kombinierte ich einen bodenlangen Rock mit langärmligem Oberteil. Bereits nach vier Minuten auf dem Fahrrad merkte ich, dass es nicht leicht ist, orthodox zu sein. Schweißtropfen rannen mir die Stirn und an den Beinen hinunter. Auch der Versuch, den Rock weit oben zuzuknoten, brachte nicht viel Besserung. Als ich schließlich beim Rabbiner ankam, sah ich aus, als wäre ich direkt aus der finnischen Sauna gekommen. Ich musste an die Schwulensaunas denken, von denen mir neulich Freund A. erzählte, während ich mit dem Rabbi sprach. Wer war
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