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Guten Morgen, Tel Aviv

Guten Morgen, Tel Aviv

Titel: Guten Morgen, Tel Aviv
Autoren: Katharina Hoeftmann
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Propagandaveranstaltungen der Hamas kennt. »Willst du uh uh uh, Eyal al al al, die hier ir ir ir … «
    Da es für Israelis zu viel verlangt ist, länger als zwei Minuten konzentriert zuzuhören, wurde die Zeremonie immer wieder von lauter Partymusik unterbrochen, die Gelegenheit zu unkontrollierten Bewegungen bot. Die Braut sah währenddessen aus, als müsste sie sich übergeben, und der Bräutigam schwitzte in sein silbernes Glitzerhemd. Um die Tanzfläche herum saßen junge Männer, die Goldketten und leicht bekleidete Mädchen angelegt hatten. Mein wunderbarer Lebensbegleiter tänzelte mit vorgetäuschtem Mafiosoblick zwischen ausladend mit Essen eingedeckten Tischen hin und her, für ihn war ein Traum wahr geworden. Der Rabbi rappte immer weiter. Die Situation hätte trotzdem normaler nicht sein können, denn israelische Hochzeiten sind mitunter so.
    Ich war schon auf einigen und habe einiges gesehen. Von der betrunkenen Braut, die in den Pool fiel, bis zum jemenitischen Volkstanz. Hochzeiten sind ein groß geplantes Business hier, fast jeder hat einen Wedding Planer. Und natürlich orientiert man sich in der Umsetzung des Events, wie mit allem, an der amerikanischen Art. Eines jedoch ist einzigartig: Wenn sich der erste Gast in ein Känguru verwandelt, weiß man, wo man ist. Es ist fast wie nach Hause kommen. Beim nächsten Mal werde ich statt einer Handtasche ohne Henkel ein Didgeridoo mitnehmen. Und dann mache ich einen Bauchtanzkurs.

Freier-Frei
    Die größte Angst der Israelis: ein Freier sein. Oder wie Benny Ziffer von der israelischen Zeitung Haaretz es ausdrückt: »Kein Freier zu sein ist das elfte Gebot der Israelis.« In einem bekannten Lied der berühmten israelischen Hip-Hop-Band »Hadag Nachash« heißt es »Wir sind ganz sicher, ganz sicher keine Freier.« Freier sein ist die Todsünde!
    Trotzdem kann man Freier sehen im Freier-freien Land: Touristen und Neu-Einwanderer. Freund A. zum Beispiel kommt aus New York. Er sagt »bitte« und »danke« – ein Freier! Bekannter F. kam aus Kanada und sagte immer »Entschuldigung«, bevor er jemandem ins Wort fiel – auch ein Freier! Freund T. wohnt eigentlich in Deutschland. Er versuchte mit seinem israelischen Arbeitgeber in ruhigem Ton ein Problem zu besprechen – Freier! Mein wunderbarer verdeutschter Lebensgefährte las neulich die Bedienungsanleitung für die Spülmaschine – Freier! Und als ich mich einst noch vernünftig in eine wartende Schlange stellte, sah ich in den Augen der Israelis nur einen Gedanken: Was für eine Freierit!
    Das Wort kommt aus dem Jiddischen und hat weniger mit bezahlten Intimitäten zu tun. Nein, ein Freier ist ein Trottel. Jemand, der sich etwas gefallen lässt. Einer, der sich zum Narren halten lässt. In Israel nicht nur ein Wort, sondern ein kulturelles Symbol. Doch die meisten Immigranten verstehen das ganze Freier-Konzept anfangs nicht. Weswegen sogar im Sprachkurs »Ulpan«, wo alle Neu-Israelis früher oder später auflaufen, darüber gesprochen wird. Wenn ihr in Israel ankommen wollt, dürft ihr keine Freier sein. Für viele hier ist das ein Aha-Moment. Plötzlich verstehen sie die Verhaltensweisen der Alteingesessenen. Warum sie einen nicht aus dem Bus aussteigen lassen, warum sie in Flugzeuge und Theater drängeln, obwohl es doch Platzkarten gibt. Warum sie beschleunigen, wenn sie sehen, dass ein Auto vor ihnen einfädeln will. Das Freier-Phänomen zu begreifen und zu verinnerlichen ist der erste Schritt zur Integration.
    Auch die israelische Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Kuriosum. Dr. Linda-Renee Bloch von der Bar-Ilan-Universität hat sogar eine Erklärung für das komische Verhalten: In der Diaspora waren die Juden stereotypisch assimiliert, zurückhaltend und intellektuell. Sie saßen blass und unsportlich mit dicken Brillen hinter noch dickeren Büchern. Gebildet, aber nicht wehrfähig. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der Zionist Max Nordau ein Gegenkonzept zu diesem »Talmudjuden«: das »Muskeljudentum«. Der Arzt rief die Juden dazu auf, mehr Sport zu machen. Nordau verstand das als einen wesentlichen Beitrag zur Realisierung des zionistischen Plans. Man sollte sich endlich wehren gegen all die Unterdrückung und Pogrome. Man sollte endlich kein Freier mehr sein!
    Und so kam es, dass im frisch gegründeten Israel vor allem eins zählte: körperliche Kraft und Arbeit, während intellektuelle Eigenschaften erst einmal auf Eis gelegt wurden. Das ging natürlich gut mit dem
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