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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung
Autoren: T.C. Boyle
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mit dazu passendem Slip. Der Mann neben ihr erwies sich als Hector Mantequilla, struppiges wildes Haar und ein zwanzig Zentimeter langer Spitzkragen. »Van!« sagte er im Umdrehen, »was liegt an?« Auch das Mädchen wandte sich um: Haare bis in die Augen, knallroter Schmollmund, nichts Halbes und nichts Ganzes. Walter hatte seinen Vater seit elf Jahren nicht mehr gesehen.
    Walter zuckte die Achseln. Er bemitleidete sich selbst, fühlte sich als Waise und als Märtyrer und total ausgebrannt, voll mit der merde des menschlichen Daseins und angewidert vom Gedanken des Verfalls: er fühlte sich alt. Es war 1968. Sartre machte Schlagzeilen, die Saturday Review fragte: »Können wir den Nihilismus überleben?«, und Life hatte den Theatermacher Jack Gelber auf einer treibenden Eisscholle fotografiert. Walter wußte Bescheid. Er war selbst ein entfremdeter Held, er war ein Meursault, ein Rocquentin, ein Mann aus Eisen und Tränen, ohne jede Hoffnung für die Welt und ebenso mit Ekel durchsetzt wie ein Jarlsberg mit Löchern. Es war zum Beispiel völlig undenkbar, jetzt nach Hause zu fahren, zu dem gefüllten Hähnchen, dem Spargelsalat und der glänzenden Mousse au chocolat, die seine Adoptivmutter für ihn gemacht hatte. Völlig undenkbar, jetzt dankbar das Geschenk seiner Freundin Jessica auszupacken – ein neuer Helm, bronzefarben wie die Sonne und dekoriert mit seinem Namen aus Blümchenaufklebern – und sie danach unter dem Rhododendron zärtlich auszuziehen, die Nacht wie der Atem eines Schlafenden, der ihm ins Ohr hauchte. Undenkbar. Zumindest im Augenblick.
    »Was willst du trinken, Mann?« fragte Hector und stützte sich dabei schwer auf die Theke. Sein T-Shirt, das offenbar aus einer Synthetik-Mischung von Zellophan und Schaumgummi bestand, war mit zwei blutunterlaufenen Augen und einer schimmernden rosa Zunge bedruckt, die hinter seinem Hosenbund verschwand.
    Walter antwortete nicht sofort, und als er es doch tat, hatte es mit der Frage nichts zu tun. »Hab heute Geburtstag«, sagte er. Obwohl er das Mädchen anblickte, sah er wieder seine Großmutter vor sich, ihre dicken, fleischigen Arme, die über einem Haufen Rübenschalen wabbelten, ihren Gesichtsausdruck, als sie ihm erzählte, sie habe ihr Telefon abgemeldet, weil die Nachbarin – eine berüchtigte Hexe – ihr verhexte Läuse durch den Hörer schickte. Abergläubisch in einem Maße, daß sie so fest mit der Vergangenheit verbunden war wie tief verankerte Grabsteine auf einem Bergfriedhof, hatte sie die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens damit verbracht, Keramikaschenbecher in Form von Köderfischen zu töpfern, wie sie ihr Mann aus seinen Netzen klaubte und zum Verfaulen ans Flußufer warf. Das sind die Entrechteten, hatte sie immer gesagt und dabei Walters behaarten Großvater angefunkelt. Geschöpfe Gottes. Im Traum sehe ich sie immer vor mir. Fische, Fische, Fische.
    »Ja, ja!« brüllte Hector. »Dein Geburtstag, Mann!« Dann rief er nach Benny Settembre, dem Barkeeper. Hector war aus Muchas Vacas in Puerto Rico, Nachfahre von Sklaven und von Indios, die versklavt worden waren. Und der Nachfahre von noch etwas anderem: seine Augen waren so grün wie die Freiheitsstatue. »Ich hab was für dich, Mann – was ganz Besonderes«, sagte er und zupfte Walter am Ärmel. »Los, komm mit aufs Klo, ja?«
    Walter nickte. Die Musikbox dröhnte los mit Geräuschen von klirrendem Glas und von Steinen, die gegen Autobusse geworfen wurden. Hector packte seinen Arm und marschierte los in Richtung Toilette, blieb aber plötzlich stehen. »Ach ja«, sagte er und deutete auf das Mädchen. »Das ist Mardi.«
    Sechs Stunden später dachte Walter an Wassersport. Aber nur flüchtig und weil die Situation dies nahelegte. Er befand sich am Fluß, gegenüber lag Peterskill, in direkter Wasserlinie waren es anderthalb Meilen zu ihm nach Hause, mit dem Auto wären es elf oder zwölf gewesen, und er steckte bis zum Hals in der öligen Styx-Brühe des nächtlichen Hudson River. Er schwamm. War jedenfalls kurz davor. Einstweilen tastete er sich noch durch den Schlick am Grund, gegen die Strömung ankämpfend, in der Nase das satte organische Aroma des Flusses, eine Duftnotenkombination von degenerierter Wasserfauna, Apfelsinenschalen, Dieseltreibstoff und, ja, auch von merde. Von vorn, aus der Dunkelheit, drang Mardis Gelächter und das leise, sachte Plätschern ihres Beinschlags zu ihm. »Komm schon«, flüsterte sie. »Es ist toll hier, wirklich.« Und dann kicherte sie los,
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