Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grim - Das Erbe des Lichts

Grim - Das Erbe des Lichts

Titel: Grim - Das Erbe des Lichts
Autoren: Gesa Schwartz
Vom Netzwerk:
alt und lief über eine sonnenbeschienene Wiese. Jemand verfolgte sie, doch ehe Grim hätte erkennen können, wer es war, verwischte die Wiese zu grauen Nebeln. Stattdessen schoben sich weitere Bilder aus dem Dunkel, sie flackerten und rasten an Grim vorüber wie fahrende Züge. Ihre Konturen waren blass, einige waren kaum noch zu erkennen, und manche zerfielen, noch während Grim sie betrachtete, in lautlos flirrenden Staub. Er spürte die Schatten, die unsichtbar in der Dunkelheit um ihn herum lauerten, die Kälte des Todes, die mit gierigen Klauen nach ihm griff. Es war nicht ungefährlich, das eigene Bewusstsein mit Magie in einen toten Körper zu senden, und nun, da die Kühle lähmend und lockend seinen Namen rief, wusste er, dass er verschwinden musste. Gerade wollte er den Zauber beenden, als ein ungewöhnlich helles Bild direkt auf ihn zuraste. Seine Konturen waren klar, und sie wurden von einer Stimme getragen, die Grim das Blut aus dem Kopf zog. Es war der letzte Todesschrei des Mädchens, der das Bild zu ihm trieb. Entschlossen wehrte er die Kälte ab und stürzte sich vor, mitten hinein in das Bild, das die heruntergekommene Gasse zeigte, in der das Mädchen lag.
    Grim schlug hart auf dem Boden auf. Er war in der Gasse gelandet, doch die Schattenflügler waren ebenso verschwunden wie das Mädchen. Das Nachtlager aus Zeitungen lag unberührt, Ratten durchwühlten den Müll. Grim konnte ihr froststarres Fell riechen, und die Kühle der Luft erschien ihm so real, dass es ihm schwerfiel zu glauben, dass er nichts weiter als einer Erinnerung gefolgt war — einer Illusion. In Wahrheit saß er noch immer auf dem Zeitungsstapel, den Kopf des Mädchens auf den Knien, und fühlte, wie der Schatten des Todes sich auf seinen Körper legte. Er kam auf die Beine und sah, dass er keinen Abdruck auf dem Schnee hinterlassen hatte. Er war da und gleichzeitig nicht da. Aus irgendeinem Grund hatte dieser Gedanke etwas Beruhigendes.
    Da hörte er Schritte. Sie liefen über das Pflaster der angrenzenden Straße, schon bog das Mädchen um die Ecke. Ihre Haare tanzten mit ihren Schritten, sie sprang über eine gefrorene Pfütze wie ein kleines Kind. In der Hand hielt sie eine Plastiktüte. Grim schauderte, als sie an ihm vorüberlief, ohne ihn zu sehen. Ihr Haar streifte wie in Zeitlupe seine Klaue, und ihre Augen — sie waren tiefblau wie der Himmel in einer sternklaren Nacht. Grims Herz setzte für einen Schlag aus, denn etwas lag im Blick dieses Mädchens, das er kannte: Sie wohnte auch in Mias Augen, diese dunkle, drängende Sehnsucht nach etwas, für das es keine Worte gab.
Mia.
Ihr Name ließ Grim frösteln. Was, wenn Mia an der Stelle dieses Mädchens gewesen wäre? Was, wenn der Mörder sie gefunden hätte? Grim spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog, er ertrug diesen Gedanken nicht. Er biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte und seine Gefühle in die hinterste Ecke seines Bewusstseins gedrängt hatte. Angestrengt konzentrierte er sich auf das Mädchen.
    Sie nahm gerade zwei Zeitungen von einem der Stapel, stellte einige Kartons gegen die Wand und ließ sich auf ihnen nieder. Dann drehte sie die Tüte um und schüttelte eine Dose Ravioli und eine Flasche Wodka auf die Zeitungen.
    Grim wusste, dass der Alkohol das einzige Mittel gegen die Kälte war, er wusste auch, dass das Mädchen die Ravioli kalt essen würde, da sie kein Feuerzeug bei sich trug. Eine drückende Beklommenheit senkte sich auf seine Schultern, als er zusah, wie sie begann, die Dose mit einem verbogenen Schraubenzieher zu öffnen. Die Finger des Mädchens waren rot vor Kälte. Grim trat vor, ging lautlos vor ihr in die Knie und hauchte einen warmen Zauber in ihre Richtung. Sie saß dicht vor ihm, und für einen Moment hob sie den Blick und sah ihn an. Natürlich sah sie ihn nicht wirklich. Nichts von dem, was er tat, konnte noch etwas an dieser Erinnerung ändern. Und doch —
sie sah ihn an.
Grim erwiderte ihren Blick, der ihm durch und durch ging, ein Blick wie aus einer anderen Welt, ein Blick, der ein Wissen barg, das ihm verschlossen war. Schneeflocken verfingen sich in ihren Haaren, sie ließ die Dose mit dem abscheulichen Inhalt sinken. Ein Staunen zog über ihr Gesicht und machte es jung, noch jünger, als es ohnehin schon war. Und dann, ganz plötzlich, lächelte sie.
    Im selben Moment spürte Grim die Kälte. Tödlich und knisternd kroch sie über die Gasse auf das Mädchen zu. Das Lächeln gefror auf ihren Lippen, sie schaute
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher