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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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Moloch.

2
    Kyell öffnete das Fenster, die Gardinen stoben auseinander und die kalte Aprilluft brach sich bahn. Er atmete tief ein. Es roch nach Schnee, aber das tat es oft, und nicht immer kam er dann auch, der Schnee, und außerdem hatte es tags zuvor über zehn Grad, aber auch das hieß nie viel. Es war schon hell, um diese Jahreszeit ging die Sonne nur noch für eine kurze Zeit unter, sie zu vermissen war nicht einfach, denn meistens blieb ihr Verschwinden unbemerkt. Draußen machten sich die ersten Frühaufsteher an ihr Tagwerk, Jákup trieb seine fünf Kühe in die Höhe, denn oben auf den Hügeln gab es ein solch saftiges Gras wie sonst nirgendwo in Gwynfaer. Auch Samu war bereits in voller Montur auf Position, er saß auf einem Hocker vor seinem Haus, sein Fernglas fest in beiden Händen, dieses Jahr wollte er auf keinen Fall die Ankunft der ersten Puffins verpassen, komme, was da kommen sollte. Die Papageientaucher waren heilig, ihm und allen anderen, nur den McGreedys nicht, den schottischstämmigen Ausländern, die aßen Vögel, auch in der Suppe. Kyell blickte nach links, aufs Meer, das ungewöhnlich sanft brandete, als wäre es auf Klatschmohn. Der Tee in seinen Händen war noch heiß, der Dampf stieg ihm in die Nase, ein Geruch nach Zedernholz und Waldbeeren, ein Geruch nach seiner Jugend, die seit genau einem Monat vorbei war.
    Kyell schaute auf das kleine Foto rechts neben dem Küchenregal. Er wusste nicht, wieso. Er schaute eigentlich nie auf das Foto. Warum auch? Nostalgie oder Wehmut waren ihm nahezu fremd. Zumindest in diesem Fall. Seine Kindheit war schön. Er hatte keine Eltern. Das heißt, er hat sie nie richtig kennengelernt. Seine Mutter starb, als er sie das erste Mal sah. Der Vater war nur auf der Durchreise. Es hieß, er verunglückte nur kurze Zeit später. Es gab nur dieses eine Foto von ihnen, aufgenommen in Norwegen, auf einem kleinen Bahnhof mit nur einem Paar Schienen, das, von Unkraut umwuchert, kaum noch zu erkennen war. Und immer, wenn er es anschaute, das Foto, sah er, wenig überraschend, das Gleiche: Seine Eltern sitzen Händchen haltend auf einer Bank und schauen aneinander vorbei. Die Mutter im Blümchenkleid. Ihre halblangen Haare sind dauergewellt und bilden im Wind ein krudes Knäuel. Auf ihren nackten Armen zirpt eine Gänsehaut. Sie sieht zerbrechlich aus, nach Porzellanfigur. Der Vater trägt einen schwarzen Anzug. Zwischen seinen Lippen hängt eine selbst gedrehte Zigarette. Der Rauch nebelt sein schmales, kantiges Gesicht zur Hälfte ein. Seine glatten Haare sind nach hinten gekämmt, nur eine einzige Strähne hängt vor seinem rechten Auge. Er schaut auf den Boden, auf die Holzplanken, die vom letzten Regen noch nicht richtig trocken sind. Ein brauner Lederkoffer mit silbernen Beschlägen, die voller Schrammen von den vielen Reisen sind, steht neben ihm.
    Für Kyell war das Foto immer nur ein einziges Rätsel. Er wusste nicht, auf welchen Zug sie gewartet haben, er wusste nicht, wohin der Vater wollte, er wusste nur, dass ihm die Eltern fremd waren. Er vermisste sie nicht. Er hatte sie auch nie vermisst. Und er glaubte, das sei falsch. Aber sicher, sicher war er sich da nicht.
    Aufgewachsen ist er bei seinem Großvater. Als Kyell zu ihm kam, war er nur ein kleines Bündel Leben, und es gab Wetten, wie er später erfuhr, dass auch nicht viel mehr aus ihm werden würde. Der Großvater war ein Berg. So wie der Grendill. Vielleicht etwas größer und kräftiger, schwer zu sagen, die Erinnerung zeigte sich bisweilen etwas ungestüm in Gwynfaer. Aber wenn die Sonne seitlich auf den Großvater schien, legte sich sein Schatten auf die Hälfte der Insel und dann gab es immer Ärger mit den Bauern, deren Rüben ganz mickrig wurden und schmeckten, als hätte man sie aus Holz geschnitzt und in Jod getunkt. Ins Gesicht aber haben sie es dem Großvater nie gesagt, nicht, weil es nicht stimmte, sondern weil es unklug gewesen wäre. Der Leumund des Großvaters war nun mal nicht der allerbeste. Das lag an seinen Händen. Zu Fäusten geballt konnten sie schlimme Dinge anrichten. Er schlug jedoch nie Frauen oder Kinder, egal was sie sagten oder taten, nur Männer. Und diese Männer mussten mindestens seine Statur haben, was nicht einfach und auch nicht immer zu bewerkstelligen war. Und sie mussten den Großvater zutiefst verärgern. So wie Baal, der Schmied, der auf dem Mittsommerfest den Großvater fragte, ob er ein wenig zur Seite rücken könne, die Bank sei schließlich für alle
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