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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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da.
    Im Nachhinein betrachtet hätte Baal wissen können, dass der Großvater Fragen, die sich nicht ziemten, aufzuwiegen trachtete. Mit Zähnen. Und eigentlich wurden in weiser Nachsicht zwei Zähne für die Bank veranschlagt, darunter ein Eckzahn, doch Baal meinte, noch einmal aufstehen zu müssen, und dann wurde einfach potenziert. Nächstenliebe, sagte der Großvater, sei eine Frage der Interpretation. Stimmen, die ihm mangelnde Spielpraxis im sozialen Miteinander vorwarfen, gab es eigentlich nicht, und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Im Ernstfall wurde alles abgestritten. Sicher war sicher.
    Gegen Kyell hat der Großvater nie die Hand erhoben, es gab auch nie einen Grund dazu, denn Kyell lernte sehr schnell auch die kleinsten Nuancen im Tonfall zu deuten, wie jeder es tat, dem das eigene Leben wertvoll erschien. Nur wenn der Großvater komisch war, nicht komisch wie lustig, sondern komisch wie komisch, dann wusste Kyell nie so genau, wie er sich verhalten sollte. Manchmal schaute der Großvater aus dem Fenster, und dann besuchte er eine Welt, die nur er kannte und die er beschützte vor allzu neugierigen Blicken und Fragen, von der er nie erzählte, es keine Postkarten gab, nicht das kleinste Andenken, und dann, wenn er wieder zurückkam, in die unsere, die so unglaubliche Welt, dann war er immer ein wenig erschrocken, für einen kurzen Moment nur, wie eine Überraschung, die ihn traf, ganz ungemein und hinterrücks, und es schien dann immer, als ob er sich fragte, wer Kyell denn sei, und wenn er sich dann erinnerte, schüttelte er kurz den Kopf, strich an seinem Bart hinab, von den Wangen bis zum Kinn, und sagte: »Der Winter wird kalt.«
    Der Großvater sagte immer, dass der Winter kalt werden würde, meistens schon im Sommer, wenn die Apfelbäume noch voller Leben waren und sie nach der Schule immer im See badeten, bis sie blau wurden oder an Lungenentzündung starben. So wie Olaf. Dabei war Olaf dick und sah immer so gesund aus. Die Winter aber wurden immer kalt, und der Großvater hatte immer Recht. Wahrscheinlich, weil er der klügste aller Menschen war. Er wusste auf alle Fragen eine Antwort. Selbst auf Fragen, die noch gar nicht gestellt wurden, von deren Existenz die Welt erst Jahre später erfuhr. Wie zum Beispiel: Welche Farbe hat die Quadratwurzel aus neun?
    Doch der Großvater war nicht nur ein Denker. Beileibe nicht. In jungen Jahren hatte er sogar einen Hang zur Trivialliteratur. Und wenn er infolge übermäßigen Alkoholkonsums in romantische Stimmung verfiel, dann holte er eines dieser Bücher aus der hintersten Ecke hervor, setzte sich zu Kyell ans Bett, kräuselte die Stirn, als ob er selbst nicht so genau wüsste, was er da tat, und las aus ihnen vor. Er kicherte dann immer ein wenig und mahnte zwischendurch, dass die leichte Unterhaltung ihm bloß nicht zu Kopf steigen solle, denn auch wenn sie wie Honig schmecke, so klebe sie doch letzten Endes nur. Der Großvater ahnte nicht, dass die Ilias ihn keinesfalls unterforderte, obwohl er schon fünf war. Und Kyell wollte nicht, dass der Großvater ihn für zurückgeblieben hielt. Sicher, manchmal hätte er sich gewünscht, dass sie einfach nur Bälle hin und her werfen, aber er wusste, dass der Großvater ihn mochte, er zeigte es nur anders.
    Als Kyell noch zur Schule musste, war er immer vor ihm wach, und in der Küchenstube knisterten schon die Holzscheite, und es roch nach altem, nass gewordenem Leder und starkem Kaffee, den der Großvater trank, und auf dem Tisch stand ein Glas Milch, die Pausenbrote waren schon verpackt, und es war Leberwurst darauf, so dick, dass sie an den Seiten herausquoll, dass er groß und stark werde, denn ein klappriges Hungergestell, sagte der Großvater, dulde er nicht in seinem Haus. Und als Kyell groß genug war, zeigte der Großvater ihm, wie man einen Baum fällt und ihn zu Brennholz verarbeitet, wie man einen Fisch fängt, ihn tötet, ausnimmt und zubereitet, wie man überlebt, als Mann, dem einzig die Natur noch Fragen stellt.
    Seit über einem Monat konnte Kyell seinem Großvater keine Fragen mehr stellen. Seit über einem Monat war er jetzt erwachsen. Er besaß ein kleines Haus, einen Kühlschrank und Puccini, das Schwein. Und er trank jetzt Kaffee. Keine Milch mehr. Auch nicht im Kaffee. Schwarz. Allerdings nur, wenn kein Tee da war, denn eigentlich mochte er gar keinen Kaffee. Aber das musste ja nicht jeder wissen. Er hatte sogar einen Beruf, das heißt, er war noch im Praktikum, seit zwei
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