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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer
Autoren: Tess Gerritsen
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wird – das ist es, was eine zum Tode Verurteilte in den Wahnsinn treiben kann.
    Sie ging den Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer, und sie kam sich vor wie diese Todeskandidatin. Wieder fragte sie sich, ob diese Nacht so ereignislos verstreichen würde wie die vergangenen zehn. Und sie hoffte, dass es so sein würde, während sie zugleich wusste, dass das Unvermeidliche damit nur aufgeschoben würde. Am Ende des Flurs drehte sie sich noch einmal zur Diele um – ein letzter Blick, ehe sie das Flurlicht ausschaltete. Als das Licht erlosch, sah sie im Straßenfenster kurz die Scheinwerfer eines Autos aufflackern. Es fuhr langsam, als ob der Fahrer das Haus ganz genau in Augenschein nähme.
     
    Da wusste sie es. Ihr war mit einem Mal so kalt, als ob das Blut in ihren Adern zu Eis gefröre. Es wird heute Nacht passieren.
    Sie zitterte plötzlich am ganzen Leib. Ich bin nicht bereit dazu, dachte sie, und wieder einmal war sie versucht, sich mit der Strategie zu behelfen, die sie fast drei Jahrzehnte lang am Leben gehalten hatte: davonlaufen. Aber sie hatte sich selbst das Versprechen gegeben, dass sie diesmal kämpfen würde. Diesmal stand nicht das Leben ihrer Tochter auf dem Spiel, nur ihr eigenes. Sie war bereit, ihr eigenes Leben zu riskieren, wenn es bedeutete, dass sie endlich frei sein würde.
    Sie trat in das dunkle Schlafzimmer, wo die Vorhänge viel zu dünn waren. Wenn sie das Licht einschaltete, würde ihre Silhouette im Fenster deutlich zu sehen sein. Solange sie nicht gesehen wurde, konnte sie nicht gejagt werden, und so ließ sie den Raum im Dunkeln. Die Tür war nur mit einem windigen Türknaufschloss gesichert, das jeder Einbrecher in einer Minute geknackt hätte, aber das war eine kostbare Minute, die sie vielleicht brauchen würde. Sie sperrte ab und drehte sich zum Bett um.
    Da hörte sie, wie jemand im Dunkeln leise ausatmete. Bei dem Geräusch richteten sich sämtliche Härchen in ihrem Nacken auf. Während sie damit beschäftigt gewesen war, die Türen zu verschließen und sich zu vergewissern, dass alle Fenster verriegelt waren, hatte der Eindringling bereits in ihrem Haus gewartet. In ihrem Schlafzimmer.
    Mit ruhiger Stimme sagte er: »Geh von der Tür weg.«
    Sie konnte mit Mühe seine gesichtslose Gestalt in der Ecke ausmachen. Er saß auf einem Stuhl, und sie musste die Waffe nicht sehen, um zu wissen, dass er sie in der Hand hielt. Sie gehorchte.
    »Du hast einen großen Fehler gemacht«, sagte sie.
    »Du bist diejenige, die den Fehler gemacht hat, Medea.
    Vor zwölf Jahren. Was war das für ein Gefühl, einem wehrlosen Jungen von hinten in den Kopf zu schießen? Einem Jungen, der dir nie etwas getan hatte.«
    »Er war in meinem Haus. Er war im Schlafzimmer meiner Tochter.«
    »Er hat ihr nichts getan.«
    »Aber er hätte ihr etwas tun können.«
    »Bradley war nicht gewalttätig. Er war harmlos.«
    »Aber er hat sich mit jemandem zusammengetan, der alles andere als harmlos war, und das hast du gewusst. Du wusstest, was für ein Ungeheuer Jimmy war.«
    »Jimmy hat meinen Sohn nicht getötet. Das warst du.
    Wenigstens besaß Jimmy den Anstand, mich an jenem Abend anzurufen, um mir zu sagen, dass Bradley tot war.«
    »Das nennst du Anstand? Jimmy hat dich benutzt, Kimball.«
    »Und ich habe ihn benutzt.«
    »Um meine Tochter zu finden?«
    »Nein, deine Tochter habe ich selbst gefunden. Ich habe Simon dafür bezahlt, dass er sie einstellte, damit ich immer wusste, wo sie war, und sie im Auge behalten konnte.«
    »Und es war dir egal, was Jimmy mit ihr gemacht hat?« Medeas erhob voller Zorn die Stimme, ungeachtet der Waffe, die auf sie gerichtet war. »Sie ist deine eigene Enkelin!«
    »Er hätte sie am Leben gelassen. Das war die Abmachung mit Jimmy. Er sollte sie laufen lassen, nachdem das hier erledigt war. Ich wollte nur, dass du stirbst.«
    »Das bringt Bradley nicht wieder.«
    »Aber es schließt den Kreis. Du hast meinen Sohn ermordet.
    Dafür musst du bezahlen. Ich bedaure nur, dass Jimmy das nicht erledigen konnte.«
    »Die Polizei wird wissen, dass du es warst. Du würdest alles aufgeben, nur um Rache nehmen zu können?«
    »Ja. Weil niemand sich ungestraft mit meiner Familie anlegt.«
    »Deine Frau ist diejenige, die darunter leiden wird.«
    »Meine Frau ist tot«, entgegnete er, und seine Worte durchschnitten die Dunkelheit wie ein Schwert aus Eis. »Cynthia ist letzte Nacht gestorben. Alles, was sie sich wünschte, alles, was sie sich erträumte, war, unseren Sohn noch einmal zu
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