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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Tess Gerritsen
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flüsterte sie. »Was bist du?«
    Ein Windhauch strich über ihr Gesicht, und sie blinzelte. Als sie die Augen wieder aufschlug, war das Gesicht verschwunden. Hektisch blickte sie sich im Zimmer um, suchte das Wesen, das noch eben hier gestanden hatte, doch da war nichts, nur Mondlicht und Schatten. War es wirklich hier, oder habe ich es mir nur eingebildet? Habe ich aus der Dunkelheit und meiner eigenen Angst diese Kreatur erschaffen?
    Durch das Fenster registrierte sie eine Bewegung. Sie spähte hinaus in den mondbeschienenen Garten, und da sah sie es über den Rasen huschen und in der Deckung der Bäume verschwinden.
    »Detective Rizzoli?«
    Jane fuhr erschrocken herum und sah die beiden Frauen in der Tür stehen. Iris stützte sich schwer auf Bella.
    »Sie braucht einen Krankenwagen!«, sagte Bella.
    »Ich bin nicht mehr so jung, wie ich mal war«, stöhnte Iris. »Oder so schnell.«
    Behutsam ließ Bella ihre Lehrerin zu Boden gleiten. Sie bettete Iris’ Kopf in ihren Schoß und begann auf Chinesisch auf sie einzureden, gemurmelte Worte, die sie ein ums andere Mal wiederholte wie eine magische Beschwörung. Worte der Heilung.
    Worte der Hoffnung.

37
    Jane stand inmitten der Polizeifahrzeuge aus Brookline und Boston, die kreuz und quer in Patrick Dions Auffahrt parkten, und sah zu, wie die Sonne über den Horizont stieg. Sie hatte vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, hatte seit dem Mittagsimbiss am Vortag nichts mehr gegessen, und das erste Morgenlicht blendete sie derart, dass sie die Augen schließen und sich mit dem Rücken gegen einen Streifenwagen lehnen musste, von plötzlichem Schwindel erfasst. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, dass Maura und Frost aus dem Haus gekommen waren und auf sie zugingen.
    »Du solltest nach Hause fahren«, sagte Maura.
    »Das sagt mir jeder.« Sie blickte zu Dions Villa. »Seid ihr fertig da drin?«
    »Sie tragen jetzt die Leichen raus.«
    Frost runzelte die Stirn, als Jane sich bückte, um Überschuhe anzuziehen. »Also, ich finde, du solltest besser nicht ins Haus gehen«, sagte er.
    »Als ob ich da nicht schon drin gewesen wäre.«
    »Darum geht’s ja gerade.«
    Er musste nichts erklären; sie hatte schon verstanden. Sie war es, die Mark Mallory erschossen hatte, und die Kugel in Patrick Dions Gehirn war mit ziemlicher Sicherheit aus ihrer Waffe abgefeuert worden. Die Pistole befand sich jetzt im Gewahrsam der Ballistiker, und sie vermisste das beruhigende Gewicht an ihrem Gürtel.
    Die Haustür ging auf, und die erste Bahre wurde herausgebracht. Schweigend sahen sie zu, wie sie zu dem wartenden Leichenwagen gerollt wurde.
    »Der ältere Mann hatte eine einzelne Schusswunde. In der rechten Schläfe, abgefeuert aus kurzer Entfernung«, erklärte Maura.
    »Patrick Dion«, sagte Jane.
    »Ich vermute, dass wir an seiner rechten Hand Schmauchspuren finden werden. Erinnert dich das an einen anderen Tatort?«
    »Das Red Phoenix«, sagte Jane leise. »Wu Weimin.«
    »Sein Tod wurde als Selbstmord deklariert.«
    »Und wie wirst du das hier nennen?«
    Maura seufzte. »Wir haben keine Zeugen, oder?«
    Jane schüttelte den Kopf. »Bella sagt, sie und Iris seien oben gewesen, als es passierte. Sie haben nichts gesehen.«
    »Aber es war noch ein anderer Eindringling im Haus«, warf Frost ein. »Du sagst doch, du hättest ihn gesehen.«
    »Ich weiß nicht, was ich gesehen habe.« Jane blickte zum Garten. Dort hatte sie in dieser Nacht im Mondschein einen Blick auf etwas erhascht, das im Wald verschwunden war. »Ich glaube nicht, dass ich es je wissen werde.«
    Maura blickte sich um, als die zweite Leiche aus dem Haus gerollt wurde. »Ich könnte Patrick Dions Tod als Selbstmord deklarieren, aber die Ähnlichkeit zum Red Phoenix ist zu groß, Jane. Es wirkt inszeniert.«
    »Ich glaube, die Ähnlichkeit ist beabsichtigt. Es soll wie ein Echo aus der Vergangenheit sein. Der Kreis der Gerechtigkeit, der sich schließt.«
    » Gerechtigkeit zählt nicht als Todesart.«
    Jane sah sie an. »Warum eigentlich nicht?«
    »He, Frost! Rizzoli!« Detective Tam winkte ihnen von einem Wäldchen aus zu, wo er mit einem Team von Kriminaltechnikern stand.
    »Was gibt’s?«
    »Der Leichenspürhund hat gerade etwas angezeigt!«
    Die vermissten Mädchen. Sicherlich gab es noch mehr Namen, die es nicht auf Ingersolls Liste geschafft hatten, andere Mädchen, die in den Jahren seit Charlotte Dions Entführung verschwunden waren. Und welcher Ort war besser geeignet, die Leichen zu verstecken, als
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