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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag
Autoren: John Irving
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Meer salzig war und rauh, saßen Vater und Sohn lang auf dem Dach. Es war immerhin eine lange Geschichte, und Angel sollte eine Menge Fragen stellen.
    Candy, die am Ciderhaus vorbeifuhr und sie dort oben sitzen sah, machte sich Sorgen, ob ihnen auch nicht kalt wäre. Aber sie störte sie nicht. Sie fuhr einfach weiter. Sie hoffte, die Wahrheit würde sie warm halten. Sie fuhr zu dem Schuppen beim Apfelmarkt und ließ sich von Everett Taft helfen, das Leinwandverdeck auf den Jeep zu legen. Dann ging sie und holte Wally aus dem Büro.
    »Wohin fahren wir?« fragte Wally. Sie hüllte ihn in eine Decke, als wollte sie ihn zum Polarkreis mitnehmen. »Offenbar nach Norden«, sagte er, als sie ihm nicht antwortete.
    »Zum Anlegeplatz meines Vaters«, sagte sie. Wally wußte, daß Ray Kendalls alte Anlage und alles andere, was Ray gehört hatte, über Land und Meer verweht worden war. Er blieb still. Das häßliche kleine Autorestaurant, das Bucky Bean fabriziert hatte, war den Winter über geschlossen; sie waren allein. Candy steuerte den Jeep über den leeren Parkplatz und hinaus auf einen steinigen Damm, der als Kaimauer gegen die Wellen im Hafen von Heart’s Harbor diente. Sie hielt so nah am Wasser, wie es nur ging, neben den alten Pfählen von dem, was einst der Anlegesteg ihres Vaters gewesen war – wo sie und Wally so viele Abende verbracht hatten, vor so langer Zeit.
    Weil dies kein Rollstuhlgelände war, trug sie Wally dann etwa zehn Meter über die Steine und den Sand und setzte ihn auf einen relativ glatten flachen Schelf der zerklüfteten Küstenlinie. Sie schlug die Decke um Wallys Beine, und dann setzte sie sich hinter ihn und nahm ihn rittlings zwischen ihre Beine, damit ihnen beiden schön warm wurde. Sie blieben in dieser Haltung sitzen, den Blick nach Europa gewandt, wie Fahrer auf einem Schlitten, kurz bevor sie den Berg hinabsausen.
    »Das macht Spaß«, sagte Wally. Sie schob ihr Kinn über seine Schulter; ihre Wangen berührten sich; sie schlang ihre Arme um seine Arme und seine Brust, und sie drückte seine schlaffen Hüften mit ihren Beinen.
    »Ich liebe dich, Wally«, sagte Candy und fing an mit ihrer Geschichte. 
     
    Spät im November, in der Mäusevertilgungssaison, billigte der Treuhänderausschuß von St. Cloud’s die Berufung Dr. F. Stones als praktizierender Geburtshelfer und neuer Leiter des Waisenhauses. Die Begegnung mit dem fanatischen Missionar hatte in den Amtsräumen des Ausschusses in Portland, dem Geburtsort des verstorbenen Wilbur Larch, stattgefunden. Dr. Stone, der etwas erschöpft wirkte nach seinen Asienreisen und nach, wie er es bezeichnete, »einem Anflug von Dysenterie«, machte den richtigen Eindruck auf den Ausschuß. Seine Art war düster, sein Haar war ergraut und wies einen beinah armeemäßigen Kurzhaarschnitt auf, (»Hindu-Friseure«, entschuldigte er sich und gab einen milden Humor zu erkennen; in Wahrheit hatte Candy ihm die Haare geschnitten). Homer war nachlässig rasiert, sauber, aber unordentlich in seiner Kleidung – ungezwungen und zugleich ungeduldig mit Fremden, in der Art (so befand der Ausschuß) eines Mannes von dringenden Geschäften, der kein bißchen eitel war bezüglich seines Äußeren; er hatte keine Zeit dazu. Der Ausschuß billigte auch Dr. Stones medizinische und religiöse Referenzen – letztere sollten nach Meinung der frommen Mrs. Goodhall der Autorität Dr. Stones in St. Cloud’s eine »Ausgewogenheit« verschaffen, die, wie sie feststellte, bei Dr. Larch gefehlt hatte.
    Dr. Gingrich registrierte begeistert die Verzerrungen auf Mrs. Goodhalls Gesicht während der ganzen Begegnung mit dem jungen Dr. Stone, der Gingrich und Goodhall nach seinem kurzen Eindruck von ihnen in dem Nachsaisonhotel in Ogunquit nicht wiedererkannte. Dr. Gingrich entdeckte eine tröstliche Vertrautheit in dem Gesicht des jungen Mannes, auch wenn er das Strahlen eines Missionars niemals in Verbindung gebracht hätte mit dem sorgenvoll sehnsüchtigen Blick, den er im Gesicht des Liebhabers gesehen hatte. Vielleicht beeinträchtigte Mrs. Goodhalls Tic ihren Scharfblick – auch sie erkannte den jungen Mann aus dem Hotel nicht wieder –, oder aber ihr Verstand erfaßte einfach nicht die Möglichkeit, daß ein Mann, der sich für Kinder aufopferte, auch ein aktives Geschlechtsleben haben konnte.
    Für Homer Wells waren Mrs. Goodhall und Dr. Gingrich nicht außergewöhnlich genug, um sich an sie zu erinnern; das in ihren Gesichtern versammelte griesgrämige Elend war
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