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Goldmond

Goldmond

Titel: Goldmond
Autoren: Susanne Picard
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jetzt ist sie hier, und langsam kehren die Empfindungen zurück.
    Zuerst ist da Licht. Es ist silbrig in der Dunkelheit. Die Quelle ist verborgen, doch der Fluss der Sterne, die einst ausgegossen wurden, strahlt nicht allein.
    Dann wird sie gewahr, das Licht kommt vom Silbermond, der kaum weitergewandert ist seit dem Moment, als sie ihn zum letzten Mal sah. Das war, als sie die Welt verließ, als ihre Seele zersprang und in die Leere und Verlorenheit hineinging, auf dass ein anderer die Welt betreten konnte.
    Das silbrige Gesicht der Ys steht genau über ihr, und sie badet sich in dem Blick des Schöpfergeistes der Harmonie. Das Schimmern des Goldmonds ist hinter dem Horizont noch zu erahnen.
    Sie sieht sich um und ist verwirrt. Sie steht immer noch – oder wieder? – in einem Raum, der einem Allerheiligsten der Schöpfergeister gleicht, vor einem Altar, in dem ein Feuer aus Spezereien brennt. Doch seine Wände sind vollständig durchbrochen und geben den Blick auf die weite Landschaft dahinter frei. In einem Licht, das gleichzeitig silbrig und dunkel ist, erkennt sie endlose Wälder, Seen und Prärien. Im Osten erstreckt sich ein Meer. Es ist, als liege ihr die Welt zu Füßen.
    Es ist, als schwebe sie mitten im Raum über dem Boden. Da ist keine Schwere. Kein Empfinden eines Körpers. Nur reine Existenz. Vorher – wie lange ist das her und wie lange dauerte es? Sie weiß es nicht – war das nicht so.
    Sie erinnert sich an den roten Sandstein, die organischen Formen, aus dem man das Allerheiligste des Tafelberges im Tal von Farokant gehauen hat. Der Raum, in dem sie starb, weil ihre Kraft mit dem Siegel zersprang. Und doch ist sie nun hier und erkennt, dass die Wände aus durchbrochenem, glattem Marmor bestehen, auch wenn sie die Farbe der Äderung nicht erkennen kann. Sie wirkt bläulich, vielleicht auch grün, also handelt es sich um einen Stein, einen Raum, den man dem Goldmond weihte.
    Doch wie kommt sie hierher?
    Sie fragt sich wieder, wer sie ist.
    Bis gerade eben existierte sie nicht. Sie war nicht einmal eine Seele, nicht einmal ein Nebelschwaden in der Leere.
    Und nun ist sie hier, umgeben von der geschaffenen Welt.
    Sie erinnert sich, da war etwas Frisches, Kühles, es war wie das Leben selbst, das kam und der Leere befahl, Form anzunehmen.
    Sie wendet sich vom Osten, dem Meer, ab und sieht nach Westen, wo noch ein unendlich schmaler Rand des Goldmonds über den Wäldern zu sehen ist. Die Strahlen des Gestirns sind wie ein Gruß, der nur ihr gilt.
    Sei gegrüßt, mein Geschöpf, das du wieder Form angenommen hast.
    Wieder umstreicht kühler, frischer Wind sie, als sei sie damit gemeint.
    Der Goldmond segnete sie einst. Sie ist sich sicher.
    Wieder zerrt etwas an ihrem Blick. An ihr, die aus Leere bestand und nun wieder eine Gestalt bekam. Dank des Goldmonds?
    Doch das geheimnisvolle Strahlen hinter den Wäldern ist nicht der Ursprung der Frische, die sie erfasst hat. Die leichte Brise lenkt ihre Aufmerksamkeit auf etwas vor ihr. Sie bemerkt erst jetzt, dass dort eine Gestalt kniet. Sie hat die Arme ehrerbietig im Gebet ausgebreitet, und sie weiß mit einem Mal, dass die Heilung, die angenehme Kälte, die dem Nichts ihrer Existenz Form verliehen hat, von dieser Gestalt ausgeht. Und sie weiß auch, dass es ein Elb ist. Einer vom älteren Mondvolk.
    Er hat dich gerufen, Geschöpf. Und weil du vollbrachtest, was die Welt heilte, wurde mir gestattet, seinen Wunsch zu erfüllen. Du bist hier. Was die Schöpfer von Chaos und Ordnung der Amdiri Feuertochter verweigern mussten, konnte ich gewähren, denn auch du bist mein gesegnetes Geschöpf.
    Damit verschwindet der letzte goldene Lichtstrahl des Mondes hinter den Wäldern. Nur noch die schmale kupferfarbene Sichel mit den rötlichen Feuern darin – Akusu, der Dunkelmond –, und auch Ys steht am Himmel, zusammen mit den Sternen, die sich im Ozean spiegeln.
    Die Seele – denn jetzt weiß sie, dass sie das ist: eine Seele – weiß nicht genau, was die rätselhaften Worte des Goldmonds zu bedeuten haben. Doch das beunruhigt sie nicht. Sie wird die Antwort finden, denn sie ist von ihm gesegnet, auch wenn sie, wie sie glaubt, keine vom älteren der beiden Mondvölker ist.
    Die kupferfarbene Sichel des Akusu, dem Zwilling des Vanar, scheint sie nun anzulächeln.
    Du bist mein Geschöpf, hört sie ihn sagen. Wie mein Zwilling diesem hier seine Bitte gewährte, werde ich dir im Namen von Chaos und Ordnung auch einen Wunsch erfüllen.
    Hast du einen Wunsch,
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