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Gold

Gold

Titel: Gold
Autoren: Chris Cleave
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selbst entschieden. Genau wie ich.«
    Tom hielt ihren Blick fest.
    »Gut«, sagte er schließlich. »Und jetzt weg damit. Verstanden? Das hier ist das Leben; das hier ist der Sport. Du musst nur an die nächsten zehn Minuten denken.«
    Sie schluckte. »In Ordnung.«
    Er lachte. »Dann tu nicht so, als hättest du Angst.«
    »Hör dir den Lärm an. Ich habe Angst.«
    »Pass auf, Zoe. Du hast hart gearbeitet. Du hast es ins Finale geschafft. Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist, dass du die zweitschnellste Radsportlerin auf diesem Planeten bist. Das Schlimmste, was dir in den nächsten zehn Minuten passieren kann, ist, dass du eine olympische Silbermedaille gewinnst.«
    »Eben.«
    »Hast du Angst davor, Silber zu gewinnen?«
    Sie dachte nach und nickte. »Lieber würde ich sterben.«
    »Ehrlich?«
    »Ehrlich.«
    Sie holte tief Atem, und das große Zittern in ihrem Körper legte sich. Tom lächelte.
    »Was denn?«
    »Junge Dame, ich glaube, Sie sind bereit für Ihr erstes olympisches Finale. Jetzt tu uns beiden einen Gefallen, geh raus und hol dir den Sieg.«
    »Aber die Tür …«
    Er grinste. »Hat es nur in deinem Kopf gegeben.«
    Sie stand auf und drückte vorsichtig mit zwei Fingern gegen die Metalltür. Sie schwang mühelos auf, schlug wie eine Glocke gegen den Türstopper, und das Gebrüll der Menge wurde lauter.
    Sie sah ihn mit großen Augen an.
    »Was ist?« Tom scheuchte sie davon. »Na los. Du bist schon verdammt spät dran.«
    Zoe warf ihm noch einen Blick zu. »Du bist ziemlich gut.«
    »Na ja, in meinem Alter wird es auch Zeit.«
    Silbriges Sonnenlicht fiel durch die Oberlichter im Dach des Velodroms und erhellte den hohen, weiß getünchten Aufgang, der zur Bahn führte. Mitten auf der letzten weißen Stufe stand in blauer Schablonenschrift das olympische Motto: Citius, altius, fortius.
    Zoe atmete tief die heiße, dröhnende Luft ein. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Alles, was geschehen war, war vorbei, vergeben und vergessen. Die Menge schrie ihren Namen. Sie lächelte, holte Luft und machte den ersten Schritt hinaus ins Licht.

203 Barrington Street, Clayton, East Manchester
    Kate Meadows sah in dem winzigen Fernseher, der im chaotischen Wohnzimmer ihres Drei-Zimmer-Reihenhauses stand, wie ihre beste Freundin aus dem Tunnel auftauchte und in die Mitte des Velodroms trat. Der Lärm der Menge steigerte sich noch einmal, ließ die Lautsprecher des Fernsehers beinahe bersten. Ihr Herz schlug heftig. Die Babyflasche balancierte auf dem Fernseher, und das Geheul der Menge erzeugte konzentrische Kreise in der Flüssigkeit.
    Als Zoe die Arme hob, um der Menge für die Unterstützung zu danken, ließ der Donnerhall, der als Antwort ertönte, die Flasche quer über den Fernseher wandern. Sie verharrte wackelnd an der Kante, kippte, fiel zu Boden und blieb auf der Seite liegen, wobei die weiße Flüssigkeit aus dem transparenten Sauger in den braunen Juteteppich sickerte. Kate achtete nicht darauf. Sie war wie gebannt von Zoes Anblick.
    Kate war jetzt vierundzwanzig und hatte, seit sie sechs war, davon geträumt, olympisches Gold zu gewinnen. Achtzehn Jahre der Vorbereitung waren perfekt gelaufen. Sie hatte in ihrem Sport alles erreicht. Sie hatte sich mit Zoe den Trainer geteilt und sie bei der nationalen und der Weltmeisterschaft geschlagen. Und dann, im letzten Jahr der Vorbereitungen für Athen, war Sophie zur Welt gekommen.
    Es war ein alter Fernseher und die Bildqualität miserabel, doch Kate war nur zu deutlich bewusst, dass Zoe auf einem zwölftausend Dollar teuren amerikanischen Rennrad saß, einem Prototypen, dessen mattschwarzer Monocoque-Rahmen aus unidirektionaler Hochmodul-Karbonfaser bestand, sie selbst hingegen auf einem Klippan-Sofa von Ikea mit epoxidbeschichteten Metallbeinen und einem waschbaren Bezug in Almås-Rot. Kate wusste sehr wohl, dass man auch auf einem solchen Sofa Siege feiern konnte, aber es waren kleine domestizierte Triumphe, die sich alle um das Baby drehten. Sie drückte die Knöchel gegen die Schläfen und rief sich in Erinnerung, wie sehr sie Sophie und Jack liebte, der sich in Athen auf sein Rennen am nächsten Tag vorbereitete. Sie versuchte, alle eifersüchtigen Gedanken zu vertreiben, und knetete ihre Schläfen, bis sie wehtaten, doch – Gott möge ihr verzeihen – ihr Herz sehnte sich immer noch nach Gold.
    Unter dem Couchtisch untersuchte Sophie die Überreste von Frühstück und Mittagessen und gurrte glücklich, während sie sich Cornflakes und eine
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