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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank
Autoren: Andrea Schacht
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er seine Arbeit nicht so ordentlich und zuverlässig getan, hätte man ihn, den jungen Einzelgänger, der mit abwesendem Blick stundenlang an einer Stelle sitzen konnte, wohl für zurückgeblieben gehalten. Doch es war nicht geistige Stumpfheit, die ihn die Einsamkeit suchen ließ. Es war Trauer, eine ungewisse Art von Schuld, die er verspürte, die nicht fassbare Erinnerung an ein furchtbares Ereignis. Manchmal träumte er von den Schlachtfeldern, dann wachte er schreiend auf. Gelegentlich aber träumte er auch von einer Frau, die ihn liebevoll in den Arm nahm, und einem starken, großen Mann, zu dem er voller Bewunderung aufsah. Sie waren gesichtslos, namenlos, und wenn er aus diesen Träumen erwachte, waren seine Wangen nass von Tränen.
     
    1817 wurde beschlossen, die Garnison in Colchester drastisch zu verkleinern. Die französische Bedrohung war endgültig verschwunden, die Soldaten wollten zurück zu ihren Familien. Captain Finley hatte um seine Entlassung gebeten und teilte das auch seinen drei Pferdeburschen mit. Er war ein fairer Mann, aber einen großen Stall zu halten, konnte er sich privat nicht leisten. Darum drückte er jedem der drei eine gut gefüllte Börse in die Hand und überließ es dem vierzehnjährigen Jimmy, dem dreizehnjährigen Wally und dem elfjährigen Alexander, sich zukünftig auf eigene Faust durchzuschlagen.

Süßer Trost
    Sie ist ein reizendes Geschöpfchen,
Mit allen Wassern wohl gewaschen;
Sie kennt die süßen Sündentöpfchen
Und liebt es, häufig draus zu naschen.
    Die Schändliche, Busch
     
     
    Anders als der magere, zähe Junge in England hatte es die pummelige Baroness von Briesnitz nicht schwer, sich durchs Leben zu schlagen. Zumindest hätte ein Außenstehender so geurteilt. Mit ihren drei Jahren war Dorothea, die sich selbst der Einfachheit halber Dotty nannte, ein zauberhaftes kleines Mädchen, das den Besucherinnen ihrer Mutter, der Baronin Eugenia, oft den Ausruf: »Was für ein süßes Zuckerpüppchen!« entlockte. Worauf die Baronin eine kontrapunktisch säuerliche Miene zeigte. Sie schätzte es überhaupt nicht, dass ihr Gatte eine ordinäre Rübenzuckerfabrik auf seinem Gut Rosian bei Magdeburg betrieb, und betonte bei jeder Teestunde, in ihrer Küche habe sie persönlich die Anweisung erteilt, ausschließlich importierten Rohrzucker zu verwenden. Dieser Anweisung wurde selbstredend nicht Folge geleistet, Rohrzucker aus den Kolonien war bei Weitem zu teuer für die sorgsam bedeckt gehaltenen Vermögensverhältnisse derer von Briesnitz.
    Nichtsdestotrotz war Baronesschen Dotty ein lieblicher Anblick. Ihr rosiges, rundes Gesicht wies zwei schelmische Grübchen auf, wenn sie lächelte, ihre schokoladenbraunen Augen konnte sie schon mit drei Jahren neckisch aufschlagen, und wie gesponnene Zuckerwatte fielen ihre silberblonden, feinen Haare über ihren Rücken.
    Nicht ganz so lieblich wie ihr Anblick zeigte sich indessen ihr Benehmen. Vor allem dann, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen lief. In solchen Situationen konnte sie eine ganze Klaviatur unangenehmer Reaktionen bespielen. Die mildeste Form war ein demonstratives Schmollen, eine Steigerung ein störrisches Trotzen, verbunden mit energischem Aufstampfen der Füße. Half das nicht zu erreichen, was sie sich vorgenommen hatte, kamen Tränen, gefolgt von Schreikrämpfen hinzu, weshalb sich ihre Kinderfrau einmal zu einem Klaps auf den rüschenbedeckten Hintern hinreißen ließ, wodurch jedoch keine Besserung des Verhaltens eintrat, sondern ein hysterischer Anfall ausgelöst wurde, bei dem sich das Kind wie toll auf dem Boden wälzte und mit hochrotem Gesicht so lange brüllte, bis man einen Erstickungsanfall befürchten musste.
    Die Amme fand schließlich eine Lösung – sie steckte in das zum Getöse aufgerissene Mäulchen der Kleinen ein Klümpchen Zucker. Dotty klappte den Mund zu, schnaufte ein paar Mal und lutschte dann den süßen Trost zufrieden auf.
    Die Familie gewöhnte sich daran, für derartige Anfälle immer einige Zuckerstückchen oder Karamellen in erreichbarer Nähe zu haben. Zwar konnte man das Kind damit beruhigen, aber sie beseitigten nicht den Unmut und die Unzufriedenheit, die Dorothea allzu oft packten. Vor allem, seit ihr kleines Brüderchen Maximilian auf die Welt gekommen war, quengelte sie immer häufiger. Inzwischen war Max ein Jahr alt, ein genügsamer kleiner Kerl mit wachen Augen, von dem sein Vater voller Stolz nur als sein Sohn und Erbe sprach. Dotty verspürte giftige
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