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Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen

Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen

Titel: Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Autoren: Hermann Scherer
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30 Minuten klopft der Meister zweimal auf Holz. Hier wird nur mit Klopfen kommuniziert. Wir stehen auf und gehen ein wenig im Kreis herum. Ich kann kaum gehen, so sehr sind meine Beine eingeschlafen, habe Angst das Bein nicht belasten zu können, zu fallen. Ich spüre mein Blut in den Extremitäten pulsieren. In meinen Ohren ist irgendein komisches Geräusch. Meine Fußsohlen kribbeln. Nicht einfach gehen, nein, Schritt für Schritt für Schritt, jeden einzelnen Schritt extrem bewusst. Den Fuß heben, ihn nach vorn führen, mit der Ferse aufsetzen, mit dem Vorderfuß aufsetzen. Angekommen sein. Jetzt und hier. Den Boden durch meine Socken spüren. Hier stehen, nun, hier, jetzt genau hier sein. Ich bin hier. Ich stehe da und bin. Und weiter. Gedankenfetzen rasen durch meinen Kopf.
    Klack, klack. Fünf Minuten sind um, nun klopft es wieder. Wir verbeugen uns vor unserem Platz, knien uns wieder hin und ich schaue wieder die Wand an. Stille. Der Maler hat die Wand schlecht gestrichen, denke ich mir, jetzt wo ich viele Ewigkeiten lange diese Wand ansehe und jeden einzelnen Pinselstrich und Farbverlauf tiefgehend |34| untersuchen könnte. Gedanken – der Zug fährt wieder. Ich schaue die Wand an. Stille.
    Sitzen. Atmen. Sitzen. Klopfen. Gehen. Atmen. Klopfen. Sitzen. Atmen. Sitzen. Klopfen. Gehen. Atmen. Klopfen. Dann Frühstück. Schweigend. Auch Blickkontakt ist verboten. Stille.
    Am Vormittag leiste ich meine Stunde Hausarbeit, die hier dazugehört. Ich putze den Speisesaal. Gott sei Dank den Speisesaal. Ich habe gestern sehr spät hier eingecheckt – sofern man in einem Kloster von einchecken reden kann. Jeder muss sich beim Check-in für Hausarbeit eintragen und sich eine noch nicht vergebene Hausarbeit aussuchen. Es gab gestern noch Speisesaal oder Toilette putzen zur Auswahl. Gut, dass ich nicht der Letzte war.
    Sitzen. Atmen. Sitzen. Klopfen. Gehen. Atmen. Klopfen. Sitzen. Atmen. Sitzen. Klopfen. Gehen. Atmen. Klopfen.
    Mittagessen, schweigend.
    Sitzen. Atmen. Sitzen. Klopfen. Gehen. Atmen. Klopfen. Sitzen. Atmen. Sitzen. Klopfen. Gehen. Atmen. Klopfen.
    Abends gehe ich auf mein Zimmer, alleine, langsam, in meiner farblich neutralen, bequemen, ungemusterten Kleidung und meinen Hausschuhen, so wie es die strenge Vorschrift verlangt, der ich mich eine Woche lang freiwillig unterwerfe. Jedes Muster auf der Kleidung könnte ja ein Zug im Kopf des anderen sein.
    An diesem Abend schlafe ich nicht sofort ein. Für einen Hektiker wie mich ist diese Stille, dieses Schweigen, diese Ruhe zu Beginn eine unklare Sache. Ständig kommen die Gedanken und drängen sich nach vorn. Es ist aufregend, nicht aufgeregt zu sein. Habe mein iPhone einfach mit reingeschmuggelt – stand da überhaupt was in der Hausordnung? Eine SMS ist erlaubt, denke ich, immerhin, eine SMS geht ja auch schweigend vonstatten, sage ich zu mir und schreibe kurz einige Zeilen über das klösterliche Leben.
    Das ganze Jahr versuche ich, so effizient wie möglich so viel Umsatz wie möglich mit so vielen Terminen und Reisen wie möglich zu machen. Machen, machen, machen. Und hier mache ich nichts, aber auch gar nichts – außer Speisesaal putzen. Hier bin ich nur. Ich habe das Gefühl, beim nächsten Mal noch länger im Kloster bleiben zu müssen, um noch tiefer hineinzutauchen in mein Da-sein. An |35| keinem anderen Ort wird deutlicher, wie wenig wir zum Leben brauchen, wie viel wir im Gegensatz dazu haben, und wie sehr es gilt, loszulassen.
    Wer loslässt, hat zwei Hände frei
    Das Geld ist da, der Platz zum Horten auch. Und sie sind ja schön, die Möbel, das Auto, die Klamotten. So füllt sich der Rucksack des Lebens. Und unter ihrem wuchernden Hausstand schleichen die Menschen langsamer und langsamer dahin. Bis endlich alle Bewegungsenergie verbraucht ist und sie zu Archivaren im Museum ihres eigenen Lebens geworden sind.
    Machen Sie einmal Bestandsaufnahme. Wie oft haben Sie dieses Hemd in den letzten zwölf Monaten getragen? Wie oft haben Sie jenes Buch in den letzten zwölf Monaten in die Hand genommen? Wie oft haben Sie in den letzten zwölf Monaten auf diesem Stuhl gesessen? Wie oft haben Sie jene Lampe in den letzten zwölf Monaten angeknipst? Wann haben Sie dieses Paar Schuhe zum letzten Mal getragen? Wann haben Sie jene Vase zum letzten Mal benutzt? Wann haben Sie all die Fotos zum letzten Mal angeschaut? Wann waren Sie das letzte Mal auf dem Dachboden und haben etwas geholt, das Sie gebraucht haben?
    Schauen Sie mal, was Sie alles in den Regalen
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