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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition)
Autoren: Steven Uhly
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sieben und acht. Im Hinterzimmer sitzen und Kaffee trinken, wenn gerade keine Kunden da sind. Er sagt: »Ich komme morgen früh in deinen Laden. Dann reden wir Tacheles!«
    »Tacheles!«, ruft Herr Wenzel, und sie stoßen mit ihren leeren Teegläsern an.
    Als Herr Wenzel gegangen ist, fühlt Hans sich mit einem Schlag ernüchtert. Er sieht sich in seiner Wohnung um, als sei er fremd hier.
    Drei Monate lang hat er seine Zelle mit anderen Menschen geteilt. Wenn er sich gerade an jemanden gewöhnt hatte, verschwand derjenige und jemand anderer kam an dessen Stelle. Manche waren freundlich, andere verzweifelt, der eine oder andere gefährlich. Aber alle taten das Gleiche wie Hans: Sie warteten. Auf das Ergebnis der Nachforschungen. Auf den Prozess. Auf die Verurteilung. Auf die Freilassung. Hans wartete nicht auf die Freilassung. Er versuchte einfach nur durchzuhalten, sich nicht von seiner Version der Geschichte abbringen zu lassen, ganz gleich, was der Rest der Welt denken mochte. Er log aus Überzeugung, und je länger er log, desto mehr war er davon überzeugt, dass er keine andere Wahl hatte. Er konnte Veronika Kelber nicht mit seiner Aussage dem Staatsanwalt ausliefern und Chiara die Mutter wegnehmen. Dann hätte sie ihr Ziel erreicht, und das wollte Hans verhindern. Der Kampf zwischen ihm und Veronika Kelber blieb der Öffentlichkeit verborgen. Und dass Veronika Kelber ihn verloren hat, ist vielleicht das Beste, was ihnen beiden widerfahren konnte.
    Aber wie auch immer es kommen mag, denkt Hans, während er durch seine dunkle Wohnung geht, bis er in seinem Schlafzimmer angekommen ist. Wie auch immer es kommen mag, ich bin allein und sie ist fort. Er lässt sich auf sein Bett sinken, er legt sich hin und denkt an Chiara mit ihrem zahnlosen Lächeln, mit ihrem alles sehenden Blick, mit ihrem lauten Kichern. Mit ihren hübschen Augen. Ihren ausgestreckten Armen. Tief in seinem Herzen wird sie immer Felizia heißen, das weiß Hans schon seit einiger Zeit. Tief in seinem Herzen wird sie immer sein Kind bleiben. »Du alter Narr«, murmelt er vor sich hin und streicht mit der Hand über die leere Betthälfte. »Du alter Narr.« Er sagt es beinahe liebevoll.
    In dieser Nacht träumt Hans von Chiara. Sie ist groß geworden, eine junge Frau, und sie gehen gemeinsam spazieren. In weiter Ferne liegt ein rotes Gebirge, und dahinter, das weiß Hans, weil er schon dort war, ragt irgendwo der Fudschijama in den Himmel auf. Chiara lächelt ihn an, sie ist eine wunderschöne Frau, sie nimmt seine Hand und sagt: »Alles geht vorbei.« Dann erwacht Hans und liegt im Dunkeln und sein Mund ist so trocken, dass er aufstehen und Wasser trinken muss.
    Am nächsten Morgen geht Hans früh hinunter. Er nimmt die Treppe, weil er Lust hat, sich zu bewegen. Dort begegnet er Herrn Balci, dem Hausverwalter. Herr Balci wartet, bis Hans ihn grüßt. Aber Hans grüßt ihn nicht. Er schaut ihn bloß an und geht vorbei. Herr Balci bleibt stehen und sieht Hans nach. Er hat das ungute Gefühl, dass seine Autorität einen dauerhaften Schaden erlitten hat. Während er weitergeht, beschließt er, die neue Mahnung wegen der drei Monate, die Hans mit der Miete im Verzug ist, nur schriftlich zu formulieren und auf seinen üblichen Wohnungsbesuch zu verzichten. Hans überquert die Straße, die um diese Zeit voller Autos ist. Er betritt den Lotto-Toto-Laden von Herrn Wenzel. Er geht ins Hinterzimmer, wo für zwei Personen gedeckt ist. Er gießt sich Kaffee ein. Er schneidet ein Brötchen in zwei Hälften, beschmiert sie mit Butterund streicht Erdbeermarmelade darauf. Er genießt das Frühstück. Er schaut aus dem Fenster. Die Sonne scheint und die verschneite Stadt sieht unberührt aus. Die kürzesten Tage sind vorbei und jetzt wird es bald wieder aufwärtsgehen. Hans denkt an das Weihnachtsfest zurück, das er gemeinsam mit anderen Häftlingen und dem diensthabenden Wachpersonal gefeiert hat. Er denkt an das Silvesterfest ein paar Tage später. Im Gefängnis wurde ihm der Sinn solcher Termine deutlich. Es sind Stützpfeiler in einer Welt, die sich ständig verändert. Es spielt keine Rolle, dass Weihnachten nie wiederkehrt, weil das nächste Weihnachtsfest eine ganz andere Sache ist als das letzte. Das Einzige, was zählt, denkt Hans, ist, dass wir beiden denselben Namen geben können.
    Herr Wenzel kommt herein, der Ansturm ist vorbei. Er sieht verkatert aus. Er lässt sich schwer in seinen Sessel fallen. Er sagt: »Ganz gleich, was du mir jetzt sagst, Hans:
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