Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glück, ich sehe dich anders

Glück, ich sehe dich anders

Titel: Glück, ich sehe dich anders
Autoren: Melanie Ahrens
Vom Netzwerk:
reichten wir Anträge für Pflegegeld und Schwerbehindertenanerkennung ein. Die Antragsabwicklungen mit den zuständigen Ämtern führten zunächst zu Ablehnungen, sodass Rolf und ich uns in unserer spärlichen Freizeit mit der Bearbeitung von Widerspruchsangelegenheiten rumzuschlagen hatten.
    Es reichte manchmal nicht, dass ich mir wie eine Bettlerin vorkam, sondern ich wurde auch noch wie eine Lügnerin behandelt, zum Beispiel als ich in einer Behördenstelle zu hören bekam: »Alte Menschen am Krückstock, das sind Behinderte.«
    Ein anderer Sachbearbeiter fragte mich: »Was hat Ihr Kind denn eigentlich?« Ich zeigte ihm den Bericht des Krankenhauses, und er sagte laut: »Ah ja, ein Doofen-Syndrom!« Entweder beherrschte er die englische Sprache nicht, oder er wollte mich ärgern.
    Viele Menschen denken, dass der Name Down-Syndrom von dem englischen Wort »down« abgeleitet ist, das im Englischwörterbuch mit »nieder, herunter, abwärts, unten« übersetzt wird. Dass der Name jedoch auf den englischen Entdecker dieser Chromosomenstörung Herrn John Langdon Down zurückgeht, ist den meisten nicht bekannt. Und kaum jemand weiß, was hinter dieser Störung im Erbgut steckt, nämlich dass das Chromosom 21 bei den Betroffenen dreimal statt nur zweimal vorhanden ist, weshalb man auch »Trisomie 21« sagt.
    Wir nahmen also den Kampf mit den Behörden auf, der sich irgendwann hoffentlich auszahlen würde. Wir lebten für unsere Louise. Unsere »heile Welt« war zwar völlig aus der Bahn geraten, aber irgendwie schafften wir es, alles wieder in eine Spur zu bringen.
    Es war mein großer Wunsch, andere Eltern mit gleichen Problemen kennen zu lernen. Ich war mir sicher, dass es meinen Kummer mildern würde, wenn ich Gleichgesinnte träfe. Frau Hansen vermittelte mir den ersten Kontakt zu einer jungen Mutter, die wie ich ein Kind mit Down-Syndrom hatte; nach und nach entstanden auch Kontakte zu anderen Eltern, deren Kinder ebenfalls von der Behinderung betroffen waren.
    Als wir schließlich immer mehr Kinder mit Down-Syndrom kennen lernten, erkannten wir schnell, dass wir gar nicht allein mit unserem »Problem« waren. Wir erfuhren, dass bis zum Geburtsjahr von Louise in Deutschland pro Jahr über eintausend Kinder mit einem Down-Syndrom auf die Welt gekommen waren. Das Kennenlernen der anderen betroffenen Kinder zeigte uns bald, dass Behinderungen zum Leben dazugehören.
    Ich habe eines Abends Louises Finger und ihre Zehen gezählt. Es war doch alles dran, und sie wurde immer hübscher. Sie hatte sogar einen richtig langen Hals. Wenn ich mit Louise unterwegs war und behinderte Menschen sah – beispielsweise im Wartezimmer beim Arzt -, setzte ich mich ohne Zögern neben sie. Ich fühlte mich mit ihnen wohl, wie unter Gleichgesinnten.
    Deshalb freute ich mich so sehr auf die Weihnachtsfeier der Frühförderung, zu der wir eingeladen waren. Ich hoffte, dort viele andere Eltern mit behinderten Kindern zu treffen.
    Als wir wenige Wochen später bei der Feier eintrafen, liefen tatsächlich viele Kinder umher, sangen und spielten ausgelassen. Ich konnte aber nicht ein Kind erkennen, das in irgendeiner Weise behindert zu sein schien. Diese Kinder sahen alle völlig gesund aus. Ich erfuhr, dass an der Frühförderung auch Kinder teilnahmen, die beispielsweise zu früh auf die Welt gekommen waren und eine Entwicklungsverzögerung aufarbeiten sollten. Sie galten aber eigentlich nicht als »richtig behindert« und hatten die Chance, sich als völlig gesunde Kinder zu entwickeln. Ich wusste, dass es bei Louise niemals solch einen gesunden Zustand geben würde, war enttäuscht und deprimiert. Ich hatte den Eindruck, bei dieser Veranstaltung die einzige Mutter mit einem »richtig behinderten« Kind zu sein, welchem man die Behinderung auch ansah.
    Für uns gab es keine große Hoffnung. Wir klammerten uns an die kleinen Schritte, die Louise machte.
    Ein Grund zur Freude schließlich war die Tatsache, dass sich bei einer der Kontrolluntersuchungen in der Kinderklinik für Herzkrankheiten herausstellte, dass sich das Loch in Louises Herz von selbst geschlossen hatte. In dieser Hinsicht wenigstens war Louise nun gesund.

SCHAM
    I m April 1999 feierten wir im engsten Familienkreis Louises Taufe. Sie wurde zusammen mit einem – gesunden – Mädchen getauft. Mir standen die Tränen in den Augen. Dieses Mädchen sah sehr gut entwickelt aus, trug ein prachtvolles Kleid, war vergnügt, und die ganze Familie um es herum strahlte. Alle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher