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GLÄSERN (German Edition)

GLÄSERN (German Edition)

Titel: GLÄSERN (German Edition)
Autoren: Rona Walter
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umgeben von einer Aura der Reinheit und Sanftmut. Diese Passivität und Scheu, die man in ihr erkannt haben will, hatte ich niemals als solche ausmachen können. Eher war sie einfach ein stilles, in sich ruhendes Wesen. Ihr Gesichtchen rund mit spitzem Kinn und herzförmigem, fein gezeichnetem kleinen Mund. Ihre großen, leicht mandelförmigen Augen riefen einen geradezu hinab in das dunkle Blau des Meeres und zwangen mich stets zum Innehalten, wenn ich den langen Korridor entlangeilte. Ich sah Muster und verschlungene Figuren in ihren langen nachtfarbenen Locken, und obwohl sie lediglich bis zur Taille abgebildet worden war, erinnerte ich mich genau an ihren puppenhaften, runden Körper. Damals gönnte ich mir diese kleinen Momente des Schwärmens stets. Heute nicht mehr. Aber das wird man zu gegebener Zeit besser verstehen.
    Er fragte mich nach ihrem Namen. Die Art, wie er den Kopf schief legte und sie gierig anblickte, machte die tanzenden Schatten an den Wänden zu Gespenstern, und ich werde bis heute beschwören, dass sich seine Augen riesenhaft weiteten und seine großen, gelblichen Zähne länger wurden!
    Ich war sicher, dass er geiferte. Ich schauderte und schob diese Illusion auf das flackernde Licht an den Wänden.
    »Man nannte sie hier Lil`«, merkte ich an. »Wie die Grabesblume.« – Trotz ihrer betörenden Eleganz und Zartheit. »In den alten Zeiten, hier im schottischen Hochland, hüteten sich die Einheimischen vor diesem Gewächs und vermieden es, ihre Töchter nach ihm zu benennen. Es gab lange Zeit kein Mädchen mit einem artverwandten Namen. Dies hatte wohl seinen Ursprung in der Mär, die sich um die grausame Lillith rankt, aber …« ich stockte, da ich nicht abschweifen wollte, dennoch hallte der Singsang der Alten aus dem Dorf plötzlich in meinem Kopf wider:

    Weiß steht für die Reinheit und symbolisiert das junge Mädchen. Rot steht für Fruchtbarkeit und das Blut des Lebens. Es symbolisiert die Mutter.

    Trotz des volkstümlichen Abscheus gegen diesen Namen keimte in dem Grafen der Wunsch auf, seine Tochter nach dieser reinen Blume zu benennen. Da ihre Mutter, meine Lady, zu gegebenem Zeitpunkt noch immer an den Folgen der problematischen Geburt litt und ihre Gesundung mehr als fragwürdig war, hatte er zunächst die alleinige Pflicht und somit auch das Recht, seine Tochter mit einem ihr angemessenen Namen zu schmücken.
    »Nun, obwohl gebürtiger Deutscher, entschied sich Graf Hektor für einen gälischen Namen, der dem Wunsch seiner darniederliegenden schottischen Frau entgegenkam, das Mädchen nach ihrem Aussehen zu benennen. Er taufte sie auf den Namen Eirwyn, was bei uns Schotten ›weiß wie Schnee, rot wie Blut‹ bedeutet. Sie wurde in einem besonders harten Winter geboren …« Ich zögerte einem Moment. »Als mein Herr aus dem Fenster blickte, wurde er dem Schneetreiben gewahr, das von dem dichten Rauch durchzogen ward, in dessen Feuer man derweil die Nachgeburt verbrannte. Er wünschte sich, seine Tochter solle Lippen, so rot wie das Blut seiner Frau haben, das im Feuer zischend verbrannte, und Haut, so weiß wie der frische Schnee.«
    Wir betrachteten das Portrait eine Weile versonnen und erwachten ruckartig wie aus einem vermaledeiten Tagtraum, als Jezabel uns wieder einmal galant an unseren Termin erinnerte, indem sie lautstark krächzte.
    »Die Lady gesundete glücklicherweise dann doch recht hurtig«, schloss ich hastig. »Kommen Sie.«

    Ich führte Lord Sandford einen weiteren schmalen Flur entlang, der über und über mit Spiegeln behängt war. Zum größten Teil hingen sie, aber ebenso lehnten und standen welche an den Wänden und einige baumelten sogar frei unter der Decke, gehalten von dünnen Ketten. Ein Labyrinth, das Lady Amaranth von ihrem Einzug an erschuf, indem sie von ihren weiten Reisen rund um die ferne Welt jeweils ein besonders auffälliges und ebenso wertvolles Andenken mitbrachte. Sie waren in allen Größen und Formen vorhanden und mit allen erdenklichen Verzierungen, Schnitzereien und Bemalungen versehen; aus jedwedem Material. Und jeder davon warf beinahe spöttisch das pittoreske Bild Lord Sandfords zurück, wie um ihm seine eigene optische Grobschlächtigkeit mehrfach unter die Nase zu reiben. Kurzzeitig fürchtete ich, seine Schultern würden einige der Spiegel von ihrem Plätzen reißen, und auch ich bewegte mich mit den Koffern in beiden Händen wie ein versehrter Krebs vorwärts.
    Wir zwängten uns erfolgreich durch den kompakten Flur. Am Ende
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