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Gewitterstille

Gewitterstille

Titel: Gewitterstille
Autoren: Sandra Gladow
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Lust auf eine kalte Cola. Seine Hände tasteten eine gefühlte Ewigkeit nach dem Lichtschalter. Die Glühbirne, die schmucklos am Ende eines Deckenkabels herunterbaumelte, spendete ihm endlich surrend ein wenig Licht und gab den Blick auf das ver staubte Sammelsurium hier oben frei: Kartons, Holzkisten, Leuchten und Haushaltsgeräte vergangener Jahrzehnte fanden sich hier und schienen längst in Vergessenheit geraten zu sein. Zu beiden Seiten des Giebels musste er besonders achtgeben, um sich nicht an den schrägen Dachbalken zu stoßen. Er hob die verstaubten Laken an, die in der Mitte des Raums über wuchtigen Gegenständen hingen und im diffusen Licht geradezu gespenstisch aussahen. Was sich darunter verbarg, waren eine alte Leuchte mit einem übergroßen beigefarbenen Lampenschirm aus Samt, ein bemaltes hölzernes Schaukelpferd, unzählige Ölbilder und eine hohe Wanduhr, hinter deren geborstener Glasscheibe die verbogenen gusseisernen Zeiger auf kurz vor neun stehen geblieben waren. Eine nahezu mannsgroße afrikanische Figur aus Ebenholz, die hinter einer Reihe aufgestapelter Kartons in der Ecke stand, schien ihn mit ihrem Blick zu durchbohren und erhöhte sein Unbehagen. Er näherte sich einer Reihe aufgestapelter Kartons, um nachzusehen, was sich darin befinden könnte. Es kostete ihn Mühe, die mit dünnem Filzstift aufgebrachte Beschriftung zu entziffern: »Tischwäsche«, »Firmenunterlagen Peter seit 1967«, »Fotos Österreich« und andere Anmerkungen, die wenig Hoffnung auf einen lohnenswerten Fund machten. Die alte Frau hatte sechzig Jahre lang in diesem Haus gelebt, und der Dachboden barg ganz offenbar die Reliquien eines jeden Jahrzehnts. Es würde Tage dauern, sich da durchzuarbeiten, und zudem war ungewiss, ob hier überhaupt noch etwas Brauchbares zu finden war. Er entschied sich, den Rückzug anzutreten, knipste das Licht aus, stieg vorsichtig rückwärts die Treppe hinab und schloss die Luke zum Dachboden wieder. Den Zugstab stellte er zurück an seinen Platz neben dem Einbauschrank im Flur des Obergeschosses. Hastig lief er über die mit dunkelgrünem Webteppich bezogene Treppe zurück ins Erdgeschoss, wo er beinahe über einen der unzähligen Orientläufer stolperte, die auf dem rustikalen Eichenparkett verteilt waren. Es war inzwischen fast zehn, und er musste pünktlich bei dem nächsten Patienten sein. Er raffte die Tüten zusammen und warf einen letzten Blick zurück ins Wohnzimmer. Sie saß ganz friedlich in dem großen Ohrensessel, fast so, als würde sie schlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Kopf ruhte zur Seite geneigt auf einem der schweren Kissen aus Brokatseide. Die großen roten Pantoffeln standen geduldig wartend neben dem kleinen Hocker, nicht ahnend, dass sie bereits ihren letzten Gang getan hatten. Ihr Anblick ließ ihn einen Moment innehalten. Sie war daheim. Hinter ihr lag ein langes, erfülltes Leben, dessen stille Zeugen in Form von Bildern, Nippes und Vasen überall auf der Anrichte und in den Borden des wuchtigen Mahagonischranks aufgereiht waren. Es schien ihm, als würden die barocken Engel aus Meissener Porzellan sie in stiller Andacht betrachten, entschlossen, neben ihr auszuharren, bis man sie fand. Er setzte seine Schirmmütze auf, ging zur Haustür und spähte durch die Glasscheibe seitlich davon. Im gegenüberliegenden Garten spielten Kinder, und am Ende der Straße konnte er den Postboten auf seinem Fahrrad ausmachen. Er änderte seinen Entschluss und lief zurück ins Wohnzimmer, wo er durch die Verandatür verschwand.

3. Kapitel
    A nna kannte das Auto des Hausarztes von Frau Möbius. Er besuchte sie mehrmals in der Woche und verabreichte ihr die notwendigen Spritzen, die ihr Rückenleiden lindern sollten. Es beunruhigte sie daher auch nicht, dass er seinen Wagen am Morgen in der Auffahrt des Nachbargrundstücks parkte. Umso heftiger fuhr Anna der Schreck in die Glieder, als nur wenig später ein Leichenwagen vor Frau Möbius’ Haus hielt. Sie bat Sophie, für eine Weile auf Emily aufzupassen, streifte ihre Sandalen über und lief zum Nachbarhaus hinüber. Die Haustür war nur angelehnt. Zögernd trat Anna in den kühlen Hausflur.
    »Hallo?« Niemand antwortete.
    Sie hielt einen Augenblick inne, bevor sie durch die kleine Diele in das gegenüberliegende Wohnzimmer ging.
    »Mein Gott«, entfuhr es Anna, als ihr Blick auf den Ohrensessel fiel. Frau Möbius saß zusammengesunken darin, und die bläuliche Blässe in ihrem Gesicht dokumentierte untrüglich,
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