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Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
Autoren: Leo Trotzki
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Universalität und Permanenz der Menschheitsentwicklung. Das allein schließt die Wiederholungsmöglichkeit der Entwicklungsformen einzelner Nationen aus. Gezwungen, den fortgeschrittenen Ländern nachzueifern, hält das rückständige Land die Reihenfolge nicht ein: das Privileg der historischen Verspätung - und ein solches Privileg besteht - erlaubt, oder richtiger gesagt, zwingt, sich das Fertige vor der bestimmten Zeit anzueignen, eine Reihe Zwischenetappen zu überspringen. Die Wilden vertauschen den Bogen gleich mit dem Gewehr, ohne erst den Weg durchzumachen, der in der Vergangenheit zwischen diesen Waffengattungen lag. Die europäischen Kolonisten in Amerika begannen die Geschichte nicht von neuem. Der Umstand, daß Deutschland oder die Vereinigten Staaten England ökonomisch überholt haben, war gerade durch die Verspätung ihrer kapitalistischen Entwicklung bedingt. Umgekehrt ist die konservative Anarchie in der britischen Kohlenindustrie, wie auch in den Köpfen Macdonalds und seiner Freunde, eine Quittung für die Vergangenheit, in der England zu lange die Rolle des kapitalistischen Hegemonen gespielt hat. Die Entwicklung einer historisch verspäteten Nation führe notgedrungen zu eigenartiger Verquickung verschiedener Stadien des historischen Prozesses. In seiner Gesamtheit bekommt der Kreislauf einen nicht planmäßigen, verwickelten, kombinierten Charakter.
    Die Möglichkeit, Zwischenstufen zu überspringen, ist selbstverständlich keine absolute; ihr Ausmaß wird letzten Endes von der wirtschaftlichen und kulturellen Aufnahmefähigkeit des Landes bestimmt. Eine rückständige Nation drückt außerdem die Errungenschaften, die sie fertig von außen übernimmt, durch Anpassung an ihre primitivere Kultur hinab. Der Assimilationsprozeß selbst bekommt dabei einen widerspruchsvollen Charakter. So brachte die Einführung der Elemente westlicher Technik und Ausbildung, vor allein auf dem Gebiete des Militär- und Manufakturwesens unter Peter 1., die Verschärfung des Leibeigenschaftsrechtes als Grundform der Arbeitsorganisation mit sich. Europäische Rüstung und europäische Anleihen - das eine wie das andere zweifellos Produkte einer höheren Kultur - führten zur Befestigung des Zarismus, der seinerseits die Entwicklung des Landes hemmte.
    Die geschichtliche Gesetzmäßigkeit hat nichts gemein mit pedantischem Schematismus. Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, enthüllt sich am krassesten und am verwickeltsten am Schicksal verspäteter Länder. Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen. Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein anderes Gesetz, das man mangels passenderer Bezeichnung das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen kann im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen. Ohne dieses Gesetz, selbstverständlich in seinem gesamten materiellen Inhalt genommen, vermag man die Geschichte Rußlands wie überhaupt aller Länder zweiten, dritten und zehnten Kulturaufgebots nicht zu erfassen.
    Unter dem Druck des reicheren Europa verschlang der Staat in Rußland einen verhältnismäßig viel größeren Teil des Volksvermögens als die Staaten im Westen und verurteilte damit nicht nur die Volksmassen zu doppelter Armut, sondern schwächte auch die Grundlagen der besitzenden Klassen. Da er gleichzeitig die Hilfe der letzteren benötigte, forcierte und reglementierte der Staat deren Bildung. Infolgedessen konnten sich die bürokratisierten privilegierten Klassen niemals in ganzer Höhe aufrichten, und um so mehr näherte sich der Staat in Rußland der asiatischen Despotie.
    Das byzantinische Selbstherrschertum, das die Moskauer Zaren sich offiziell zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts angeeignet hatten, zähmte mit Hilfe des Adels das feudale Bojarentum und unterwarf sich den Adel, ihm gleichzeitig die Bauern versklavend, um sich auf dieser Grundlage in den Petersburger Imperatorenabsolutismus zu verwandeln. Die Verspätung dieses Prozesses wird dadurch zur Genüge charakterisiert, daß das Leibeigenschaftsrecht, das im sechzehnten Jahrhundert entstanden war, sich im siebzehnten ausgebildet und seine Blüte im achtzehnten erreicht hatte, rechtlich erst 1861 abgeschafft wurde.
    Die Geistlichkeit hat nach dem Adel bei der Herausbildung des zaristischen Selbstherrschertums keine geringe, aber eine völlig
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