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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Autoren: Andreas Rödder
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Feiern zum 40. Jahrestag der Staatsgründung vor Augen, die nicht von Bildern der Flüchtlinge in den bundesdeutschen Botschaften überschattet werden sollten, verhielt sich die SED-Führung diesmal flexibler. Am 30. September bot sie an, die Zufluchtsuchenden am nächsten Tag mit Sonderzügen über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Als Außenminister Genscher nach langwierigen Verhandlungen nach Prag reiste, um den Menschen in der Botschaft mitzuteilen, «dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bevorsteht», ging die zweite Hälfte des Halbsatzes in nicht enden wollendem Jubel unter.
    Noch am 30. September verließ der erste Zug die Hauptstadt der Tschechoslowakei. Mit der Erlaubnis zum Transit über das eigene Staatsgebiet hatte sich die DDR-Führung den Anschein geben wollen, ihre Souveränität zu wahren. In Wahrheit erwies sie sich einen Bärendienst, denn die Durchfahrt der Züge dokumentierte die Kapitulation der Führung vor dem Volk. Erich Honecker rief den Flüchtlingen hingegen in einem von ihm redigierten Leitartikel des
Neuen Deutschland
vom 2. Oktober 1989 hinterher, man solle ihnen «keine Träne nachweinen».
    Doch die DDR-Führung hatte mit diesem «humanitären Akt», als den sie ihre Ausreiseerlaubnis deklarierte, das Problemnoch immer nicht gelöst. Schon einen Tag nach der Abreise der Züge befanden sich abermals 6000 Menschen in der Prager Botschaft, viele weitere in der Nähe und auf dem Weg dorthin. Am 4. Oktober fuhren abermals Sonderzüge über das Territorium der DDR. Diesmal aber kam es entlang der Bahnstrecke, an Langsamfahrstellen und vor allem am Dresdener Hauptbahnhof zu gewaltsamen, tumultartigen Auseinandersetzungen, als an der Grenze zurückgewiesene Ausreisewillige versuchten, auf die Züge aufzuspringen.
    Zugleich beschloss das Politbüro, den pass- und visafreien Verkehr mit der Tschechoslowakei auszusetzen und die «Grenze gegenüber der CSSR und der VR Polen […] in ihrer Gesamtlänge unter Kontrolle zu nehmen» – sprich: zu schließen. Die Einführung der Visumpflicht für die CSSR, die der Fluchtwelle Einhalt gebieten sollte, stieß in der DDR-Bevölkerung und selbst bei SED-Mitgliedern jedoch auf massive Kritik und verschärfte die innere Lage weiter. Das Kalkül der Führung, durch die Ausreisegenehmigung für die Botschaftsflüchtlinge Druck aus dem Kessel zu lassen, ging nicht auf. Nicht mehr «Wir wollen raus!» hieß es im Oktober. Die neue Parole klang wie eine Drohung: «Wir bleiben hier!» Die Flüchtlingskrise schlug in eine Regimekrise um.
2. Regimekrise
    Mit den Tumulten am Dresdener Hauptbahnhof in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober sprang die Flüchtlingskrise auf das Territorium der DDR über. Bereits im September 1989 hatten in Leipzig, zunächst im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung, erste öffentliche Protestkundgebungen stattgefunden. Die staatlichen Kräfte reagierten mit Härte. Am 11. September verhafteten sie 89 Personen, von denen 19 zu Haftstrafen bis zu sechs Monaten verurteilt wurden. Schon dies allerdings bewirkte weniger Abschreckung als vielmehr Solidarisierung, und am 25. September kamen bereits über 5000 Demonstranten zusammen. Die Demonstrationen entstanden spontan, ohne öffentliche Aufrufe und sichtbare Führung und auch ohne besondereBeteiligung von Mitgliedern der Oppositionsgruppen. Neben der bereits institutionalisierten Oppositionsbewegung bildete sich mit der Massenbewegung und den Massendemonstrationen ein zweiter, eigener Strang der Bürgerbewegung innerhalb der DDR heraus.
    Entscheidend waren die kritischen Tage um den 40. Jahrestag der Staatsgründung der DDR. Während der offiziellen Feierlichkeiten demonstrierten mehrere zehntausend Menschen in Ost-Berlin sowie in anderen Großstädten und auch in kleineren Orten und Ortschaften. Mit brutaler Gewalt gingen die Kräfte der Staatsmacht am Wochenende des 7. und 8. Oktober in Ost-Berlin, in Dresden und andernorts gegen die Demonstranten vor. Bereits am 22. September hatte Erich Honecker die Anweisung gegeben, «dass diese feindlichen Aktionen im Keime erstickt» werden müssten. Zur Sicherung der Vierzig-Jahr-Feiern wurde vorsorglich die Nationale Volksarmee in Stellung gebracht, und für den Zeitraum vom 6. bis zum 9. Oktober wurde erhöhte Gefechtsbereitschaft befohlen. Erich Mielke verlangte von den Leitern der Diensteinheiten den «Einsatz aller geeigneten Mittel».
    Die Zeichen vor der Leipziger
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