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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Autoren: Andreas Rödder
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in Leipzig war es auch andernorts: Hatte erst einmal eine Demonstration stattgefunden, dann war der Bann gebrochen, die Fügsamkeit der großen Mehrheit überwunden, wurde die Sehnsucht nach Freiheit stärker als die Erfahrung der Angst und die Gewohnheit der Resignation. So wurden, wie es in einer westdeutschen Lageeinschätzung hieß, Teile der in «Lethargie verfallenen Bevölkerung regelrecht reaktiviert […], konfliktbereiter und auch veränderungswilliger». Die Bürgerbewegung gewann, wie die Staatssicherheit am 23. Oktober rapportierte, «zunehmende Selbstsicherheit im öffentlichen Auftreten» und artikulierte bald verstärkt den expliziten Willen, «als politischeOpposition gelten und wirken zu wollen». Und schon eine Woche später musste das MfS feststellen, dass die Oppositionsbewegung, vor allem das Neue Forum, inzwischen «ausnahmslos alle wesentlichen Bereiche der Gesellschaft» durchdringe. Dabei ging es zunächst nicht um die Diskussion konkreter politischer Positionen und Perspektiven, sondern um die anschwellende und bald selbstläufige Welle der Solidarisierung und der Politisierung: «Wir sind das Volk».
    Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang, dass in der DDR keine funktionsfähigen vermittelnden Instanzen der Kommunikation und des Interessenausgleichs existierten. Dieses Vakuum zwischen Bevölkerung und politischen Institutionen hatte über vierzig Jahre die Stabilität des Systems gewährleistet. Nun beförderte es seinen Zusammenbruch. Mangels solcher Organisationen von Öffentlichkeit gewannen nämlich die Oppositionsgruppen alsbald zentrale Bedeutung als Ansprechpartner für den unumgänglich gewordenen «Dialog». Zugleich konnte, in umgekehrter Richtung, die Opposition ihre Wirkung direkt und unmittelbar entfalten, ohne auf dem Weg über ein Vermittlungssystem an Kraft zu verlieren.
    In der zweiten Oktoberhälfte vermochte sich die Bürgerbewegung gegen das zusammenbrechende Regime durchzusetzen. Von zentraler Bedeutung war dabei das Zusammenwirken von Oppositions- und Massenbewegung. Etwa 250.000 Teilnehmer zählte die Leipziger Montagsdemonstration vom 23. Oktober, 145 Protestveranstaltungen fanden im ganzen Land zwischen dem 23. und dem 30. Oktober statt und 210 in der darauf folgenden Woche. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung am 4. November 1989 mit der großen Demonstration auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Dabei zeichnete sich indessen bereits eine neue Konstellation ab, während sich das Bündnis von Massenbewegung und Opposition nach wenigen, aber entscheidenden Wochen wieder löste.
    Vor über 500.000 Menschen traten Schauspieler und Schriftsteller, Vertreter der Oppositionsgruppen sowie reformkommunistische Intellektuelle und Funktionsträger des Systems ans Mikrofon. Die Demonstration repräsentierte eine Schnittmengevon Oppositionsbewegung, zuvor weithin regimeloyalen Intellektuellen und reformorientierten Teilen der SED, wobei sich die Vertreter der Staatspartei, immer wieder von den Demonstranten unterbrochen und ausgepfiffen, verzweifelt als reformwillig darzustellen versuchten. Trotz aller Bemühungen der Staatsmacht, die Demonstration in die eigene Richtung zu lenken, richtete sich deren Impetus eindeutig gegen die überkommene Herrschaft der SED, auch seitens der bislang Regimeloyalen: «Es ist», sagte der gefeierte Stefan Heym, «als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation – der geistigen, der wirtschaftlichen, der politischen, nach all den Jahren der Dumpfheit und des Miefs, des Phrasengewäschs und bürokratischer Willkür.»
    Die Bürgerrechtsbewegung stand auf ihrem Höhepunkt. Der Palast der Republik, so die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt voller Emphase, war «umbrandet von jenen 500.000, die diesen Novembersamstag für immer zum Tag der Volkssouveränität haben werden lassen; denn gewaltlos ergriffen sie, Bürger und Bürgerinnen dieses Landes, zusammen mit ihren Kindern Besitz von diesem Haus, schauten glücksstrahlend von der Terrasse in die bewegte Menge, erfüllt allein von der Volksgewalt des gewaltlosen Wortes: ‹Wir sind das Volk!›»
    Der Traum von der evolutionären Entwicklung zu einer reformierten demokratischen und sozialistischen DDR schien für die Opposition zum Greifen nahe. Eine Rücktrittswelle spülte zahllose Funktionsträger im ganzen Land aus dem Amt, am 7. November die gesamte Regierung und tags darauf auch das Politbüro; am selben Tag wurde, sechs Wochen nach der
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