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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel
Autoren: Ronald Dworkin
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Konzeptionen der großen politischen Werte solange ausdehnt oder zusammenschrumpft, bis sie gut ineinanderpassen. Auf diese Weise wäre eine Integration natürlich recht einfach zu erzielen, und ich könnte einen billigen Sieg feiern. Ich werde jedoch die Überzeugungskraft einer jeden der von mir vertretenen politischen Konzeptionen zu belegen versuchen, ohne eine Theorie allein dadurch für plausibel zu erklären, daß sie zu anderen mir wichtigen Begriffen paßt. Mein Ziel ist es, integrierte Konzeptionen herauszuarbeiten,
21 die alle zumindest nach einigem Nachdenken als in sich stimmig erscheinen. In diesem Buch werde ich jedoch durchgängig eine sehr starke und von den einzelnen Ideen unabhängige These vertreten: daß im Bereich der politischen Moral die Integration der verschiedenen Aspekte eine notwendige Wahrheitsbedingung darstellt. Nur wenn unsere Auffassungen der verschiedenen politischen Werte tatsächlich ineinandergreifen, können sie wirklich überzeugen. Nicht der Igel, sondern der Fuchs hat sich zu früh seines Sieges gefreut, denn auch wenn ihn gegenwärtig alle feiern mögen, wird sich sein Sieg letztendlich als illusorisch erweisen.
    Interpretation
    Um den langen Weg zu dieser wichtigen Erkenntnis über Integration und Wahrheit zu bewältigen, sollten wir uns zunächst in einem ersten Schritt einer Herausforderung stellen, mit der wir unmittelbar konfrontiert sind. Im vorangegangenen Abschnitt habe ich eine Reihe von Thesen über die wahre Bedeutung bestimmter politischer Begriffe grob skizziert. Wie läßt sich zeigen, daß meine Auffassung der Gleichheit, der Freiheit oder der Demokratie richtig ist und andere konkurrierende Sichtweisen falsch? An dieser Stelle ist es angebracht, kurz innezuhalten und sich bewußtzumachen, was politische Begriffe eigentlich sind und was es bedeutet, hinsichtlich ihrer Anwendung übereinzustimmen oder uneins zu sein. Wenn zwei Menschen unter »Demokratie« nicht dasselbe verstehen, ist es sinnlos, darüber zu diskutieren, ob sie verlangt, daß allen Bürgern derselbe Anteil zukommt, weil sie einfach aneinander vorbeireden würden. Das würde heißen, daß meine Thesen darüber, wie solche politischen Werte am besten aufzufassen sind, nur Vorschläge darstellen, wie man bestimmte Wörter verwenden sollte. Ich könnte dann nicht behaupten, daß ich richtigliege und andere falsch.
    22 Wir müssen also fragen, wann Menschen einen Begriff auf eine Weise teilen, die echte Einigkeit oder eben Uneinigkeit ermöglicht. Bei manchen Begriffen ist das der Fall, weil wir uns einig sind, welche Kriterien bei der Identifikation relevanter Beispiele verwendet werden sollten, zumindest wenn man von einzelnen Ausnahmefällen absieht, die von allen als Grenzphänomene anerkannt werden. So sind wir uns etwa meistens darin einig, wieviele Bücher sich auf einem Tisch befinden, da wir bei der Beantwortung dieser Frage denselben Test anwenden. Eine vollkommene Einigkeit ist aber nicht unbedingt gegeben, da unsere Kriterien durchaus leicht voneinander abweichen können, zum Beispiel wenn Sie im Unterschied zu mir eine großformatige Broschüre als Buch zählen. Unsere Uneinigkeit in diesem spezifischen Grenzfall ist aber eine Täuschung, da wir uns im Prinzip einig sind. Im Fall der Gerechtigkeit und anderer politischer Begriffe verhält es sich jedoch anders. Selbst wenn wir (ausgesprochen) unterschiedlicher Meinung darüber sind, welche Kriterien herangezogen werden sollten, um zu entscheiden, ob eine Institution gerecht ist, halten wir zugleich unsere Uneinigkeit etwa über die Gerechtigkeit eines progressiven Steuersystems für echt.
    Wir müssen also einsehen, daß wir bestimmte Begriffe, und zwar unter anderem die politischen Begriffe, auf eine andere als die beschriebene Weise teilen, weil sie uns als interpretative Begriffe dienen. Entscheidend ist, daß sie Teil gemeinsamer sozialer Praktiken und Erfahrungen sind. Wir denken, daß sich diese Begriffe auf Werte beziehen, und sind uns darüber (manchmal ausgesprochen) uneinig, was diese Werte ausmacht und wie sie zum Ausdruck gebracht werden sollten. Wir interpretieren jene geteilten Praktiken, mit anderen Worten, auf recht unterschiedliche Weise, etwa indem wir unterschiedlichen Theorien darüber anhängen, welche Werte am besten jene Merkmale unserer Praktiken begründen, die wir für zentral oder paradigmatisch halten. Dieser Struktur ist es geschuldet, daß begriffliche Auseinandersetzungen über Ideen wie Freiheit oder
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