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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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zählte das Wechselgeld auf den Tresen. »Sie fahren hier auf der Küstenstraße in nördlicher Richtung, bis Sie zur Route Eins kommen. Da biegen Sie rechts ab, Richtung Machias. Das Gateway ist ungefähr zwölf Kilometer weiter auf der linken Seite. Sie können es gar nicht übersehen – es hat ein großes grünes Neonschild.«
    Ich nahm die Tüte links in den Arm und das Kind rechts. Der Mann mit dem Schnauzer machte mir die Tür auf. Die Glocke bimmelte wieder. Das Geräusch erschreckte mich.
    Die Sonne war untergegangen. Die trockene, bitterkalte Luft schlug mir ins Gesicht. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln, als ich zum Wagen lief. Hinter mir, von der Höhe der Vortreppe, hörte ich durch die eisige Stille der Nacht Stimmen, bekannt jetzt, gleichgültig, mit einem gewissen Wohlwollen.
    »Sie ist ganz allein mit dem Kind.«
    »Hat wahrscheinlich den Vater verlassen.«
    »Ja, vielleicht.«
    »Kann sein.«

Everett Shedd
    Gleich als sie da zur Tür reinkam, hat man gesehen, daß mit ihr was nicht stimmt. Sie hatte einen grauen Schal um, der ihr halbes Gesicht verdeckte, und dazu noch eine Sonnenbrille auf. Mir war sofort klar, daß sie sich verstecken wollte, aber sie hat nur das Gegenteil erreicht. Mit der schwarzen Brille am Abend, wo’s draußen schon dunkel wurde, mußte sie einfach auffallen. Verstehen Sie, was ich sagen will? Sie wollte nicht bemerkt werden und hat sich gerade dadurch auffällig gemacht. Ganz besonders, als sie nicht mal drinnen die Brille abgenommen hat. Da hab ich gewußt, daß was nicht in Ordnung ist. Und wie sie das Kind gehalten hat! Ganz fest an sich gedrückt, als hätte sie Angst, sie könnte es verlieren oder man würde es ihr wegnehmen wollen. Später ist ihr das Tuch ein Stück runtergerutscht, und da hat man’s gesehen. Ich dachte, sie hätte einen Autounfall gehabt. Die Straßen waren ja spiegelglatt – den ganzen Nachmittag schon. Viele waren noch nicht geräumt, auch die Küstenstraße nicht, drum dachte ich, sie würde uns erzählen, daß sie einen Unfall gehabt hatte. Nur haben die Blutergüsse eigentlich nicht frisch ausgesehen, verstehen Sie. Nicht so, als wär’s gerade erst passiert. Und es war ja auch komisch, daß sie sie unbedingt verstecken wollte. Normalerweise versteckt man doch Verletzungen von einem Autounfall nicht. Jedenfalls nicht meiner Erfahrung nach. Und ich hab einiges an Erfahrung. Sie wissen wahrscheinlich, daß ich der einzige Polizist hier am Ort bin, außer ich werde beauftragt, noch jemanden abzustellen. Ich und meine Frau, wir betreiben hier den Laden, aber wenn’s Ärger gibt, muß ich mich drum kümmern.
    Und wenn ich allein nicht zurechtkomme, ruf ich nach Machias rüber und die schicken einen Wagen. Und eines kann ich Ihnen sagen: Ich hab selten ein Gesicht gesehen, das so schlimm ausgeschaut hat. Was nicht heißen soll, daß wir hier nicht auch unsere Schlägereien haben. Es kommt schon mal vor, daß der eine oder andere hier zuviel trinkt und dann durchdreht, da gibt’s dann blaugeschlagene Augen, und ab und zu setzt’s sogar einen gebrochenen Arm. Aber das war was ganz andres. Ihre Unterlippe war auf der rechten Seite dick geschwollen und ganz dunkel, und oben an der Backe hatte sie eine knallrote Beule, so groß wie eine Zitrone. Wenn sie die Brille abgenommen hätte, hätten wir wahrscheinlich zwei Riesenveilchen zu sehen gekriegt. Muriel, die sie am nächsten Morgen gesehen hat, und Julia – die haben beide erzählt, es wär echt schlimm gewesen. Das war wichtig, wissen Sie, ich meine, was wir an dem Tag gesehen hatten, das mußten wir dann bei der Verhandlung aussagen. Ich glaub, Julia hat gleich, als sie reinkam, gefragt, ob’s ihr nicht gut ginge, aber sie hat doch, doch gesagt, dabei hat man genau gesehen, daß es nicht stimmte. Ich glaub, ihr war schwindlig. Und gehinkt ist sie auch, wenn ich mich nicht täusche. Ich dachte, sie hätte was am rechten Bein. Na ja, ich hab mir natürlich meine Gedanken gemacht. Sie will keine Hilfe. Sie sagt, sie wäre aus New York. Leute aus New York lassen sich bei uns fast nie blicken.
    Ich und Willis und Julia haben uns nur angeschaut, heimlich natürlich, und schwups, war sie auch schon wieder weg. Einfach verschwunden.
    Glauben Sie mir, ich hab oft drüber nachgedacht, ob ich an dem Abend richtig gehandelt hab. Ich hätt sie ja ausfragen können, wenigstens versuchen können, sie zum Reden zu bringen. Ich bezweifle allerdings, daß sie mir was erzählt hätte. Oder sonst
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