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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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schon gestellt. Ich könnte sagen, ich tue es, weil ich jeder Frau das ersparen möchte, was ich durchgemacht habe. Oder ich könnte behaupten, daß es mich als ehemalige Reporterin drängt, meine eigene Geschichte zu erzählen. Aber diese Erklärungen wären unzutreffend oder nur teilweise zutreffend. Die wahre Antwort ist einfacher und zugleich komplizierter.
    Ich schreibe es für mich selbst nieder. Das ist alles.
    Als ich mitten drin steckte, konnte ich nicht klar sehen. Ich verstand und verstand doch auch nicht. Ich konnte keinem diese Geschichte erzählen, so wenig wie ich Ihre Fragen beantworten konnte, als Sie hier waren. Aber als Sie gegangen waren, suchte ich Papier und Stift heraus. Vielleicht sind Sie ja doch eine gute Reporterin.
    Wenn Sie in meinen Erinnerungen, diesen wirren Gedankensprüngen, die Tatsachen aufspüren können, soll es mir recht sein. Und wenn ich die Geschichte schlecht erzähle, die Dialoge falsch darstelle oder manches nicht in der richtigen Reihenfolge berichte, so werden Sie doch die ein oder zwei Nuancen heraushören, auf die es ankommt?
    Eine Glocke bimmelte, als ich die Ladentür aufmachte. Die Leute drinnen – ein paar Männer, eine Frau, der Geschäftsinhaber hinter der Theke – hoben die Köpfe. Ich hatte Caroline auf dem Arm, aber im grellen Licht der Neonleuchten und in der plötzlichen Hitze im Laden wurde mir schwindlig. Die Lichter begannen zu flimmern, dann zu kreisen. Die Frau, die an der vorderen Theke stand, machte einen Schritt nach vorn, als wollte sie etwas sagen.
    Ich wandte mich von ihr ab und ging zu den Regalen.
    Sie hatten sich unterhalten, als ich hereingekommen war, und nahmen das Gespräch jetzt wieder auf. Ich hörte Männerstimmen und die Stimme der Frau. Es ging um einen unerwarteten Sturm und ein vermißtes Boot, um ein grippekrankes Kind, das nicht klagte. Zum erstenmal hörte ich den Dialekt und den besonderen Tonfall der Leute hier, wie sie die Vokale in die Länge ziehen und die »R’s« verschlucken und kurze Wörter wie »da« zu zwei Silben dehnen. Die Sprache hatte eine Melodie, die mir gefiel. Mit der Zeit wird einem dieser Dialekt so lieb wie ein altes Lied.
    Es war zum Ersticken eng in dem Laden – Sie wissen sicher, was ich meine. Waren Sie mal dort, als Sie in St. Hilaire waren? Neben die Kühltruhe mit den Frischwaren hatte man einen Ständer mit Chips und Salzstangen gequetscht. Auf zwei langen Borden reihten sich Konserven und Kartons mit Frühstücksflocken, aber mindestens die Hälfte des Raums war von Regalen eingenommen, die mit Fischereizubehör vollgestopft waren. Ich ging nach hinten und nahm mir eine Milch. Kind und Milch im einen Arm haltend, holte ich mit der freien Hand einen abgepackten Biskuitkuchen aus dem Brotregal. Auf dem Rückweg nach vorn kam ich an einer Kühltruhe mit Bier vorüber und hob im Vorbeigehen an einem Finger ein Sechserpack heraus.
    Vorn an der Theke stand ein Mann, etwa in meinem Alter und ungefähr so groß wie ich. Er hatte einen Schnauzer und trug eine Jeansjacke und eine Red-Sox-Baseballmütze. Die Jacke spannte um die Schultern, sie ließ sich bestimmt nicht zuknöpfen. Ich hatte den Eindruck, daß er die Jacke seit Jahren trug. Sie sah abgenutzt und weichgewaschen aus. Aber jetzt, da er um die Mitte etwas zugelegt hatte, war sie ihm zu klein geworden. Er hatte einen dunkelblauen Pulli an und trat unaufhörlich von einem Fuß auf den anderen. Er wirkte aufgedreht, zappelig, als könnte er keinen Moment stillhalten. Ungeduldig trommelte er auf die Theke, wo er eine Packung Fischfrikadellen, eine Dose Baked Beans, ein Sechserpack Bier und einen Karton Zigaretten abgestellt hatte. Ich meinte, ihm müßte kalt sein in so einer dünnen Jacke.
    Hinter der Theke war der Ladeninhaber, ein älterer Mann – Ende Fünfzig vielleicht? Er hatte von Zigaretten oder Kaffee stark verfärbte Zähne und auf der Brusttasche seines ockerbraunen Lederhemds einen Tintenfleck wie aus einem Rorschach-Test. Während er die Sachen eintippte, hielt er nur ein Auge auf die Kasse gerichtet. Das andere war aus Glas und schien mich anzustarren. Das Tuch drohte mir vom Kopf zu rutschen, aber ich hatte beide Hände voll und konnte es nicht hochziehen.
    Die einzige Frau im Laden stand neben der Kaffeemaschine und las den Boston Globe . Unter dem braungrauen Parka hatte sie einen selbstgestrickten grünen Pullover an. Sie war eine imposante Person, nicht dick, aber groß und schwerknochig mit einem gutproportionierten Körper,
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