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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen
Autoren: Rebecca Lim
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anhaftet wie ein Geruch, wie ein Hexentier auf seiner Schulter, das an seiner Seele nagt. Bin ich die Einzige, die es sieht?
    Dann schrumpft die Welt zusammen, verengt und verflacht sich, wird wieder weniger als die Summe ihrer Teile. Carmens Herz schlägt langsamer, ihr Atem geht regelmäßiger. Die linke Hand tut nicht mehr weh; ich lasse sie los und richte mich in meinem Sitz auf.
    Immer noch sind alle Augen im Bus auf uns gerichtet. Ist die Blonde eine Freundin? Oder was sonst ist sie für mich?
    Ich kämpfe immer noch darum, Carmens Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bekommen, und lalle mühsam: „Schlimmer Migräneanfall.“
    In meinem letzten Lebe n – oder dem von Luc y – hatte ich ständig Migräne. Für ein Wesen wie mich, dessen wahres Ich weder Kälte spürt noch jemals krank wird, war das wie Krieg im Kopf, von kurzen Atempausen unterbrochen. Als fänden Lucys Geist und Körper immer wieder Wege, sich gegen mich zu kehren, um mich irgendwann ganz zu vernichten. Ich trauere meinem Dasein als Lucy nicht nach, obwohl ich ihr alles Gute wünsche. Hoffentlich hat sie sich davon erholt, dass ich einfach in ihrem Leben herumgetrampelt bin. Irgendwann werde ich auch sie vergessen, so wie alle anderen.
    Meine lahme Erklärung reicht anscheinend aus, um die allgemeine Neugier zu befriedigen, denn alle wenden gelangweilt die Augen ab und der Lärmpegel im Bus steigert sich wieder zum Dröhnen eines Düsenjets in meinen Ohren. Die Blonde mit dem spitzen Gesicht faucht mich an: „Was Besseres fällt dir wohl nicht ein!“ Dann dreht sie sich mit einem abfälligen Schnauben um und wendet sich einem anderen Mädchen zu. So habe ich endlich meine Ruhe.
    Mit steifen Bewegungen wie ein Roboter drehe ich mich zum Fenster um. Draußen fliegt Weideland unter einem bleiernen Himmel vorüber. Die Ebene ist gesprenkelt mit toten Bäumen und Farmgebäuden, hin und wieder einer wiederkäuenden Kuh, ein alltäglicher Anblick, und das Gras am Straßenrand wird höher und struppiger, je weiter wir fahren. Die rote Erde macht sandigen Abschnitten Platz, riesige Salzebenen dehnen sich vor mir aus. Mir ist, als könnte ich schon das Meer riechen, und ich frage mich, was mich diesmal erwartet: nicht Lucys Gegend mit den tristen, heruntergekommenen Häuserblocks und den finsteren Dealern auf Skateboards, aber auch nicht Susannahs protzige Villa mit einer Haushälterin, die rund um die Uhr im Einsatz ist, und einer hypochondrischen Mutter, die Susannah einfach keine Ruhe lässt.
    Das Land ist so trocken wie Carmens Haut, die von hässlichen Ekzemen entstellt ist. Ohne groß zu überlegen, kratze ich die raue Stelle an ihrem rechten Handgelenk auf, bis Blut auf die Manschette ihres langärmligen, weißen Hemds zu tropfen beginnt. An manche Dinge erinnert sich der Körper einfach, wie ich inzwischen weiß.
    Endlich passieren wir ein Schild mit der Aufschrift: „Willkommen in Paradise. 150 3 Einwohner.“ Jenseits davon schimmert ein Streifen schmutzig graues Wasser auf, weiße Schaumkronen rollen in der Ferne an.
    Der Ortsname lässt mich scharf die Luft einziehen, obwohl ich nicht genau weiß, warum. Ich glaube nicht, dass ich hier zuvor schon einmal war, weil mich nichts an meine früheren Leben erinnert, an die sechzehn, zweiunddreißig, achtundvierzig Kurzbesuche auf dieser Erd e – oder wie viele es auch immer waren.
    Ob Carmen sich über den fehlgeleiteten Lokalpatriotismus auf dem Ortsschild lustig macht? Möglich. Hin und wieder erhasche ich einen kurzen Blick auf meine Mädchen, meine Gastgeberinnen, meine Körperhüllen. Sie sind bei mir, aber willenlos und gefügig. Vielleicht denken sie, dass sie träumen und bald erwachen werden. Manche drängen ab und zu nach oben: Wie Taucher, denen die Luft ausgeht, durchbrechen sie die Wasseroberfläche, keuchend und um sich schlagend, bis sie einfach erlöschen, weil der Kraftaufwand zu groß ist. Die Tatsache, dass kein Gespräch zwischen uns stattfindet, kein Abgleich der Interessen und Wünsche, erleichtert unseren Umgang auch nicht gerade. Trotzdem ist mir in jeder Sekunde bewusst, dass ich fremdes Territorium besetze. Dieses Wissen beeinflusst alles, was ich mache, was ich bin. Ich bin nie wirklich entspannt, weil ich mich nie ganz wohl in einer Haut fühle, die nicht mir gehört.
    Paradise ist sehr weit davon entfernt, seinem Namen Ehre zu mache n – ein schmutziges kleines Kaff, wie auf dem Reißbrett angelegt, am Rand einer hässlichen, morastigen Insel gelegen, die sich
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