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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen
Autoren: Rebecca Lim
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gewesen.
    „Tut mir leid“, keucht M r Daley und hält mir die Autotür auf. „Ich versteh das nicht. Klar bellen sie manchmal. Aber das hier? Unglaublich!“
    Ich zucke Carmens dünne Schulter n – weil das leichter ist, als erklärende Worte zu finden. Dann klettere ich steif aus dem Wagen.
    Als M r Daley mir eine Hand auf die Schulter legt, um mich ins Haus zu führen, zucke ich unwillkürlich zurück. Ich kann buchstäblich spüren, wie verletzt dieser Mann ist, der jetzt mit Carmens Tasche über der Schulter vor mir hergeht.
    Aber ich bin froh, dass er Abstand zwischen uns gebracht hat. Mehrmals stolpere ich über Dinge, die gar nicht da sind, wie jemand, der unter einer schweren Lähmung leidet, einer unheilbaren Krankheit, und ich danke dem Himmel, dass M r Daley es nicht sehen kann. Der Gang vom Auto zum Haus scheint Lichtjahre zu dauern, Weltalter. Ich schwitze furchtbar, obwohl es ein trüber, kühler Tag ist.
    Da steht auf einmal seine Frau in der weiß gestrichenen Haustür, und ich bleibe abrupt stehen, stolpere fast über meine eigenen Füße. Es ist der Schock. Weil die beiden so gut zusammenpassen wi e – wie lautet noch die Redewendun g – wie Topf und Deckel?
    „Carmen!“, ruft die Frau herzlich, „schön, dass du da bist! Willkommen bei uns, meine Liebe.“
    Mr s Daley ist perfekt zurechtgemacht. Sie muss früher mal eine Schönheit gewesen sein und kleidet sich so, als wäre sie es noch immer: sorgfältig und detailbesessen. Aber auch sie hat ein Geheimnis, das ihr die Seele zerfrisst und sich in ihr Gesicht eingräbt, ein Gesicht, das nur aus Ecken und Kanten besteht, tiefen Linien, Furchen und straff gespannter Haut unter einem Wasserfall aus glattem, dunklem Haar. Sie trägt ihren Kummer nicht so leicht wie ihr Mann, oder er kann sich besser verstellen. Was immer der Grund sein mag: Diese Frau sieht für mich aus wie eine wandelnde Tote.
    Ich bin völlig unvorbereitet, als sie aus dem Haus kommt und meine Hand nimmt. Ich brauche meine ganze Kraft, um mich nicht loszureißen und zu flüchte n – den ganzen Weg zurück, vorbei an den Killerhunden, der trostlosen Schule, dem Busfahrer, dem das Herz, das noch schlagende Herz, aus der Brust gerissen wurde. Denn was sich unter der Haut meiner Gastmutter verbirgt, ist noch viel schlimmer als das Grauen, das ich bei ihrem Mann gespürt hab e – ein wahres Schlachthaus.
    Ich breche den Kontakt hastig ab, tue so, als würde ich mir die Schuhe zubinden, und zum Glück verebbt der Lärm, das Kreischen. Mr s Daley sieht stumm auf mich herab, ein wandelndes Skelett im Kaschmirkostüm, das Perlohrringe trägt. Und doch tobt die Hölle hinter ihrer ruhigen Fassade, hinter ihren Augen. Was für ein Paar, die beiden! Und was zum Teufel ist das für ein Haus? Was mache ich hier?
    „Da lang, Carmen“, sagt Mr s Daley ruhig, während ihr Mann vor uns die Treppe zu den Schlafzimmern hinaufgeht, Carmens Tasche in der Hand.
    Er stößt eine weiß gestrichene Tür auf, gleich links von der Treppe, die mit einem dicken Teppich belegt ist. Es ist eindeutig ein Mädchenzimmer, vollgestopft mit lauter Mädchenkram: ein überquellender Schmuckkoffer, Poster von Musikstars, dazwischen Bilder von Ponys, Walen und Sonnenuntergängen, eine Spiegelkommode, zugepflastert mit Glitzistickern und Fotos von einem hübschen blonden Mädchen, das von einer ganzen Schar Freundinnen umringt ist. Mehr, als ich auf Anhieb aufnehmen kann. Das Mädchen scheint sehr beliebt zu sein. Ich sehe ein Bett und überall Kissen, eins davon mit dem Namen „Lauren“ in knallrosa Buchstaben drauf. Das Zimmer ist sauber, ordentlich und weiß wie das ganze Hau s – weiß, weiß, weiß. Ich frage mich, wo sie ist, diese Lauren.
    „Tut mir leid, dass unser Sohn Ryan nicht da ist, um dich zu begrüßen“, sagt Mr s Daley und wirft ihrem Mann einen raschen Blick zu. Ihre Skeletthand beschreibt einen anmutigen Bogen in der Luft. „Wir haben dir ein bisschen Platz im Schrank gemacht, und das Badezimmer nebenan hast du ganz für dich allein. Es wa r …“
    M r Daley wendet sich zur Tür und murmelt: „Louis a …“
    Ohne ins Stocken zu kommen, schaltet seine Frau mitten im Satz um und sagt: „Das Bad ist für dich allein, Carmen. Es ist alles da, was du brauchst: Dusche und Badewanne, Haartrockner und Toilettensachen. Frische Handtücher findest du in dem offenen Regal neben dem Waschbecken.“
    Ich nicke. „Ich möchte jetzt gern duschen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mr s … Daley, M
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