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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen
Autoren: Rebecca Lim
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Abendrot vor Einbruch der Nacht. Es liegt Neugier, Zuneigung, Erleichterung darin. Liebe? Ja, auch ein wenig davon. Aber Liebe zu wem? Zu Lauren? Zu mir?
    So müde. So müde, dass ich nicht mal reagiere, als er Carmens Kinderhand an seine Wange hält, an seiner Kieferlinie entlanggleiten lässt, bevor er sie wieder aufs Bett legt, sanft, ganz sanft. Unsere Finger sind immer noch ineinander verschlungen. Hier ist der Traum aller Mädche n – und ich kann nicht mal meine Augenlider heben, um mich an seinem schönen Gesicht zu ergötzen.
    „Wie sollen wir dir nur danken?“, flüstert er ehrfürchtig. „Dafür, dass du sie uns zurückgebracht hast. Als du nicht nach Hause gekommen bist, wusste ich, dass es meine Schuld war, dass ich dich ihm sozusagen in die Arme getrieben habe. Ich wusste, das war ein Riesenfehler. Ich glaubte, du wärst tot, und da s …“ Einen Augenblick verstummt er. Ich spüre eine warme, salzige Träne auf meiner Han d – und seine ganze Qual darin.
    „Weinst du meinetwegen?“, seufze ich aufgewühlt, obwohl es wenig Sinn macht. Denn ich falle wie ein Stein, wie ein gelichteter Anker.
    „Ist es wahr?“, fragt er, Staunen in der Stimme. „Das, was Lauren mir erzählt hat.“
    Ich will nicken, aber ich kann meinen Kopf nicht bewegen. Er fühlt sich nicht mehr so an, als ob er mir gehörte oder auch nur vorübergehend geborgt sei. Die Bande zwischen Carmen und mir lösen sich auf, und diesmal, zum ersten Mal, spüre ich es. Wir beide sind nicht länger eine Einheit, werden wieder zwei getrennte Wesen, direkt vor Ryans Augen, der nichts von diesen inneren Umwälzungen mitbekommt.
    „Das Midazolam“, sage ich mühsam, obwohl es nicht nur das ist. „Keine Zeit.“
    Er muss sich weit zu mir herunterbeugen, um meine Stimme zu hören, denn ich rieche einen Augenblick seinen diskreten, salzigen Schweißgeruch, spüre seinen süßen Atem auf meiner Stirn.
    Er packt meine Hand fester. „Morgen“, sagt er fröhlich, „reden wir weiter. Ich lass mich nicht mehr abwimmeln, da müssen sie mich schon mit Gewalt rauswerfen. Ich will alles hören. Alles. Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Es war die reinste Folter, so im Unklaren gelassen zu werden. Meine Eltern, die wissen nicht, was sie sagen oder tun sollen. Und ich auch nicht. Es gibt keine Worte dafür, keine Worte der Welt könnten jemal s …“
    Als ich nicht antworte, murmelt er: „Wir hatten Recht, es war dieser Ort, die Kirche. Nur von Stenborgs Haus aus gesehen, nicht von Barrys Haus. Stenborgs Haus grenzt auf der Rückseite teilweise an das Kirchengelände.“ Er packt meine Hand fester. „Er wurde früher schon mal als Stalker verurteilt“, sagt er düster. „Das hat er natürlich vertuscht, als er sich in Port Marie beworben hat. Niemand hat sich die Mühe gemacht, ein polizeiliches Führungszeugnis von ihm anzufordern, weil sein Lebenslauf so brillant war. Zum Teil ist das die Schuld der Framingham Schoo l – die Verantwortlichen dort haben die Schulverwaltung von Port Marie nicht gewarnt, dass Stenborg ein Psychopath ist, weil das ein schlechtes Licht auf sie geworfen hätte. Das Mädchen, das er belästigt hat, war eine seiner Schülerinne n – eine ungewöhnliche Sopranstimme. Na, kommt dir das nicht irgendwie bekannt vor? Er hat ihr massenhaft schmutzige SMS geschickt und ist sogar eines Nachts in ihr Schlafzimmer eingestiegen. Er wurde nackt im Bett des Mädchens gefunden. Die Mutter hat ein Kontaktverbot erwirkt, also hat er gekündigt, bevor die Schule ihn rauswerfen konnte, und in Port Marie neu angefangen. Hat überall rumerzählt, dass das Mädchen ihn belästigt habe, dabei war es genau umgekehrt.“
    Ich runzle schwach die Stirn, verliere den Faden. Irgendwie ist es anders diesmal. Da unten in der Höhle dieser Bestie muss etwas passiert sein. Als Carmen und ich uns voneinander getrennt haben, konnte ich fast den Punkt spüren, an dem sie aufhörte und ich anfing. Wenn ich in ein anderes Leben versetzt werde, noch einmal und noch einmal, werde ich irgendwann fähig sein, in diese Lücke zu stoßen. Ich werde immer wieder zu dieser Wegscheide gehen, immer und immer wieder, bis ich mein wahres Selbst finde, das am Ende meiner Wanderungen auf mich wartet.
    Und da ist noch etwas: Ich gehe, und diesmal weiß ich es.
    Ich wurde noch nie vorgewarnt, hatte nie Gewissheit. Aber diesmal bin ich so sicher, dass ich mich plötzlich aufrichte, wie Lazarus, wie Frankensteins Monster, wie ein Ertrinkender, der im
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