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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

Titel: G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke
Autoren: Matt Ruff
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Minuten später wirst du dich wahrscheinlich übergeben, weil du ebensogut wie ich weißt, daß du nicht schwindelfrei bist.«
    Das stimmte: Er war nicht schwindelfrei. Seltsames Eingeständnis von Seiten eines Mannes, der zweieinhalb Super-wolkenkratzer und eine ganze Palisade von kleineren Türmen besaß, aber so war's nun einmal. Seine Abneigung gegen Flugreisen war geradezu sprichwörtlich: Da er es vorzog, wenn eine Ortsveränderung denn unbedingt nötig war, mit der Bahn zu fahren, hatte er ein Netz von Transrapid-Bahnen gebaut, das hundert Städte miteinander verband, und hatte damit praktisch im Alleingang die amerikanische Eisenbahn-Renaissance des 21. Jahrhunderts eingeleitet. Gleichzeitig hatte Gant Industries die Videokonferenztechnik auf ein solches Niveau gebracht, daß es ihm nun möglich war, an gleichzeitig in Singapur, Prag, Tokio und Caracas stattfindenden Aufsichtsratssitzungen teilzunehmen, ohne auch nur für einen Augenblick den sicheren Boden von Manhattan zu verlassen.
    Nicht einmal die künstlichen Canyons und Gipfel seiner Heimatstadt, Symbole all dessen, was ihm lieb und teuer war, konnten ihn seine angeborene Höhenangst vergessen lassen. Was immer für Gefühle sich in Harry Gants Brust regen mochten, wenn er an der nordwestlichen Skyline die protzigen Zinnen von Trumps Riverside Arcadia betrachtete oder das näher gelegene Chrysler Building (dessen schlappe siebenundsiebzig Stockwerke ihm gehörten) oder, im Süden, die Zwillingsriesen, die die Battery überragten - das Bedürfnis, rüberzuflitzen und den ersten Fahrstuhl nach oben zu nehmen, überkam ihn mit Sicherheit nie.
    Aber mit dem Phoenix war es eine andere Sache. Der Phoenix war nicht lediglich sein Besitz, sondern seine Schöpfung, sein Gebäude, das höchste Bauwerk in der Geschichte der Menschheit. Wenn er an seinem höchsten Punkt stand (oder auf dem Minarett in Atlanta, dem ehemaligen höchsten Gebäude in der Geschichte der Menschheit, obwohl er da nicht mehr so häufig hinfuhr), schien sein ganzes Bewußtsein irgendwie von Grund auf verwandelt zu sein, als ob das, was ihn trug, nicht die vulgäre Konstruktion aus Stahl und Beton sei, sondern die Kraft seines eigenen Willens - eine Kraft, die durch nichts zu erschüttern war.
    Nun.
    Um ganz ehrlich zu sein, war die scherzhafte Voraussage seiner Regulatorin, er würde sich übergeben, beinah in Erfüllung gegangen - aber nur beinah. Der Gant Phoenix war offiziell im Juni 2015 eröffnet worden, in einem Monat, in dem die Ostküste von einigen der heftigsten Gewitter seit über hundert Jahren heimgesucht worden war. Während Schwarzseher über besorgniserregende Veränderungen des Weltklimas unkten, lud Gant eines Nachmittags die Hautevolee der Stadt ein, zum Prometheus-Deck heraufzukommen und »sich das kostenlose Feuerwerk anzusehen«. Eine ganze Batterie von Schwingungsdämpfern wirkte nach Kräften den durch den Wind bedingten Schwankungen der oberen Regionen des Wolkenkratzers entgegen; der Festtagspunsch schwappte zwar noch immer leicht in seiner Terrine, aber nachdem sie einmal am kalten Büffet entlangflaniert waren, wo man alle Snacks mit einem Schuß Drama-min versetzt hatte, empfanden das die Partygäste eher als amüsant denn als brechreizerregend.
    »In die Kanzel würde ich jetzt nicht hochsteigen, Harry«, riet Gants Architekt. »Nicht heute.«
    »Warum? Macht Ihnen das Gewitter Sorgen?«
    »Nicht das Gewitter. Der Wind. Das Ding wird nicht annähernd so ruhig bleiben wie der Rest des Gebäudes.«
    »Kein Problem«, sagte Gant. »Solang's nicht abbricht...«
    »Abbrechen wird's nicht. Wenn man eine Angelrute aufrecht hochhält und wippt sie hin und her, bricht sie auch nicht durch, aber das heißt noch lange nicht, daß man sich auf der Spitze des verdammten Dings wohl fühlen würde.«
    »Hmm«, sagte Harry Gant. »Danke für die Warnung. Vielleicht genehmige ich mir vorher noch ein paar Häppchen.«
    Eine Stunde später befand sich Gant oben in der kugelförmigen Glaskanzel und wurde darin wie ein Ballonfahrer, der in einen Hurrikan abgetrieben ist, durch die Gegend geschleudert. Während er sich verzweifelt an den schmalen Iiandlauf klammerte, der den einzigen festen Halt in der Kanzel bot, spürte er, wie sich ihm der Magen umdrehte; und um ein Haar hätte er seinen weltentrückten Ausguck mit dramamindurch-tränkten Kanapees besprüht. Nur eine zufällige Beobachtung rettete ihn, denn plötzlich gewährten ihm die Sturmgötter freie Sicht bis hinunter auf
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