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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Autoren: Dennis Gastmann
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ich auch schaue, in jeder Himmelrichtung steht entweder eine Statue, eine Kirche oder ein Palast. Ich blicke auf die Touristenkarte, die ich in meinem Hotel bekommen habe: Palazzo, Palazzo, Palazzo, Palazzo, Palazzo. Die ganze Stadt ist ein Museum, und vor lauter Ehrfurcht weiß ich gar nicht, was ich mir als Erstes anschauen soll. Das Turiner Grabtuch ist eine Enttäuschung. Alles, was ich zu sehen bekomme, ist der Kasten, in dem der weltberühmte Jesuslappen aufbewahrt wird. Ich darf ihn nicht mal fotografieren.
    Viel spannender finde ich es, Leute zu studieren, das könnte ich den ganzen Tag machen. Die Modepüppchen, die Möchtegerns, die Fotografen, die Schulklassen und ihre überforderten Lehrer. Die reiferen Frauen mit erstarrten Gesichtszügen, überlackiert wie Kirchenfiguren. Die Alten, deren Gesichter so erhaben sind wie die Stadt selbst. Die Afrikaner, die an der Ecke Sonnenbrillen und Handytaschen verkaufen. Den Bettler, der vor dem Bahnhof Porta Nuova sitzt und seine Hosenbeine bis zu den Knien hochgezogen hat, damit man seine schorfbedeckten Unterschenkel sieht. Die blondierten Frauen mit getunter Oberweite und den viel zu engen Motorradjäckchen, die für den Giro d’Italia werben. Die Konsumkids mit ihrer Mario-Gomez-Frisur, dem «Olaseku»: oben lang, Seiten kurz. Die kleinen und die großen Machos mit gezupften Augenbrauen, Tattoos auf den Oberarmen und Handys am Ohr. Die Kojak-Italiener mit Glatze, dickem Hintern und breitem Kreuz. Jede ihrer Gesten ist ein Feuerwerk, ihre Theatralik ein Ereignis. Wie sie ihre Zigaretten im Mundwinkel balancieren, wie sie im Gespräch betend die Hände falten, wie sie ihre Tropfensonnenbrillen tragen: die getönten Gläser unter dem Kinn, die Träger an den Schläfen. Mangia, mangia, wann sehe ich mich endlich satt?

[zur Inhaltsübersicht]

    Kapitel 19
    Tod im Reisfeld
    (Vercelli, Mortara, Garlasco)
    W illkommen zurück in der sogenannten Zivilisation. Die Nacht in Turin hat mich in einen Zombie verwandelt. Mein Körper wandert noch, aber mein Hirn ist nur noch Matsch. Zweimal rissen mich Besoffene aus dem Schlaf, die unten auf der Straße grölten. Um 6.45 Uhr kam die Müllabfuhr, um 7.15 Uhr kam sie noch einmal, und um 8.00 Uhr begann im Gebäude gegenüber eine Kreissäge zu schreien. Verdammte Kreissägen. Dieses unerträgliche Geräusch begleitet mich seit Jahren. Wo immer ich wohne, wo immer ich arbeite und wohin auch immer es mich zieht – ich kann sicher sein, dass sich bald im Umkreis von fünfhundert Metern ein rotierendes Stück Stahl durch die Stille schneidet. Wann kommt endlich der Tag, an dem jeder Balken, jede Kachel und jedes Blech in meiner Umgebung zurechtgesägt ist?
    Meine italienische Insomnia setzt sich in den nächsten Tagen fort. Mal wecken mich Betrunkene, die über den Gang poltern, mal sind es die Niagarafälle der Klospülung im Nachbarzimmer, mal ist es auch der Klassiker: eine Vespa mit aufgebohrtem Vergaser, die direkt durch meinen Kopf braust. Vespa-Fahrer müssen Sadisten sein. Und auch in dieser Nacht schlafe ich unruhig, obwohl ich in einen Palast gezogen bin. Der «Piemont-Palace» ist ein wenig königlicher Betonkasten im Süden von Vercelli, eingerahmt von einem Krankenhaus und dem Autobahnzubringer. Erst lasse ich mir vom FC Bayern und von seinem «Fiasko dahoam» den Abend verderben, dann rüttelt mich das Gegacker von Disco-Mädchen wach. Vielleicht bin ich überreist. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wo ich bin, wer ich bin und was ich eigentlich hier will.
    Was Heinrich IV. in Vercelli wollte, kann ich auch nicht sagen. Es gibt hier eine nette Piazza und den Torre dell’Angelo, einen hübschen Turm aus dem 14. Jahrhundert. Ansonsten versprüht die kleine Stadt mit ihren Hochhäusern und Superstores den Charme Hannovers. Sie ist bekannt für ihr Frauengefängnis und den gefürchteten Mittelstürmer Silvio Piola, der in den dreißiger Jahren den Fallrückzieher erfunden haben soll. Aber noch etwas anderes hat das Niemandsland zwischen Turin und Mailand berühmt gemacht.
    Es ist leider wieder so ein Morgen, an dem ich mich müde, ausgelaugt und genervt fühle. Erstaunlich, wie schnell mich meine Endorphine fallen lassen. Ich würde mich am liebsten verstecken, doch irgendwie scheine ich der Mittelpunkt des Universums zu sein. Man hupt mich an, man zeigt auf mich, und man zieht auf wundersame Weise immer dann die Rollläden hoch, wenn ich unten am Haus vorbeikomme. Außerhalb der Stadt wird es nicht besser. Gleich aus
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