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Gaisburger Schlachthof

Gaisburger Schlachthof

Titel: Gaisburger Schlachthof
Autoren: Christine Lehmann
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endlich.
    »Schiller«, überlegte ich weiter, »besaß immerhin so viel Verantwortungsgefühl, dass er seinen Kundinnen nach Anettes Tod nur noch die handelsübliche Variante Adipoclear verkaufte.«
    »Verantwortungsgefühl würde ich das nicht nennen«, bemerkte Richard.
    »Na gut«, räumte ich ein, »er hatte einfach Angst, dass es herauskommt. Darum hat er auch auf Sallys Drohung mit der Presse so schroff reagiert.«
    »Das ist nicht logisch«, behauptete Richard.
    Unter anderen Umständen wäre ich bei dem Wort logisch aus einem Männermund in die Luft gegangen, aber einerseits rang ich mit der Angst um meine vertrauten Fettpolster und andererseits waren wir immer noch nicht viel klüger als zuvor, obgleich Karin Becker jedes Stichwort ausschöpfte, das ihr einfiel. Außerdem stand Richard unmittelbar vor hochnotpeinlichen Untersuchungen gegen seine Person, wenn wir dem Schlachthoffall nicht schleunigst eine andere Wendung geben konnten. Da durfte er ruhig zur Unzeit auf Logik pochen. Es war auch nicht zu leugnen, dass der Angriff auf Sally und mich nicht mit Schillers Sorge vor Entdeckung zu erklären war. Denn da war er schon tot gewesen.
    »Und wenn es nun Gertrud war, die die geimpfte Variante verkaufte, zusammen mit Horst Bleibtreu, an Schiller vorbei, der mit seinem adrenalinreichen Naturprodukt ein bisschen von dem Geld mitnehmen wollte, das da floss«, schlug ich vor.
    Richard schüttelte den Kopf.
    »Aber warum denn nicht?«, keifte ich los. »Sei doch nicht so entsetzlich phlegmatisch!«
    Karin Becker schrak zusammen.
    Richard schaute hoch, erst zu Becker, die aus Angst vor männlichem Jähzorn die Luft anhielt, dann zu mir. In seinen Augen kreiste der Milchkaffee wie kurz nach dem Umrühren, grüne Punkte wie Blasen, dort, wo seine Pupillen pulsierten. Eindeutig die Botschaft: Spekulationen sind sinnlos, ohne Beweise läuft nix.
    »Okay«, sagte ich. »Dann gehen wir jetzt ins Internet.«
    Der Skeptizismus sprang Richard aus jedem Westenknopf, und die Höflichkeit, mit der er sich bei Frau Becker für die selbstlose Hilfe bedankte, was sie mit errötenden Wangen entgegennahm, war eine Demonstration der Abneigung gegen ziellosen Aktionismus.
    Dennoch folgte er mir in die Redaktion hinauf an meinen Computer mit Internetanschluss. Vielleicht wollte er ja auch nur die letzten Stunden mit mir verbringen, bevor Staatsanwältin Meisner ihm aus Fingerabdrücken, einer falschen Zeugenaussage und seiner Beziehung zu Katrin einen Mordverdacht zimmerte. Womöglich hoffte er auch, dass mein freundschaftliches Verhältnis zum Chaos im Internet Blüten trieb.
    Während der Server suchte, rief ich bei den namhaften Wissenschaftszeitungen an, Nature, Bild der Wissenschaft, Spektrum der Wissenschaft , bat um Informationen über den Llullaillaco-Erreger und das japanische Forscherteam und erhielt ein paar weitere Internetadressen.
    Gegen siebzehn Uhr wussten wir, dass Dr. Ogu gleich nach Entdeckung des Impfstoffes sein Forschungsinstitut verlassen hatte und in die Schweiz gegangen war. Gegen siebzehn Uhr dreißig waren die Nationalitäten seines Teams klar, ein Franzose, ein Deutscher, zwei Amerikaner und fünf Japaner. Eine Viertelstunde später stand zu vermuten, dass für den Impfstoff nirgendwo auf der Welt ein Patent angemeldet worden war. Um achtzehn Uhr war bereits ein Mensch in Stonewall, Oklahoma, an dem Llullaillaco-Erreger gestorben, und zwar erst vor drei Wochen. Es handelte sich um den amerikanischen Biologen Stuart Gingrich, der in Japan an der Entwicklung des Impfstoffs beteiligt gewesen war.
    Damit hatten wir den ersten Namen und hingen eine halbe Stunde durch und tranken Kaffee. Eine kleine Veröffentlichung in Harvard bescherte uns schließlich den Namen des Franzosen und die Erkenntnis, dass im Forscherteam ein Prioritätenstreit ausgebrochen war. Die Amerikaner und der Franzose erklärten den Impfstoff des Japaners für wirkungslos und nahmen den Fund des Erregers für sich in Anspruch. Um neunzehn Uhr fünfundzwanzig platzte die Bombe: In einer Notiz in Le Monde tauchte der Name Gotthelf Fängele auf, wenn auch ohne Punkte auf dem »a«.
    Richard stieß einen tiefen Seufzer aus, stand auf, suchte den Blick über die Trennwände unserer Arbeitskabinen hinweg zum Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Die Schwäbische Alb mauerte blau in der Dämmerung hinter den Lichtern des Flughafens. »Das passt«, sagte er. »Fängele hat Pharmazie studiert.«
    Richtig, das hatte Fängele mir sogar selbst
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