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Frühlings Erwachen (German Edition)

Frühlings Erwachen (German Edition)

Titel: Frühlings Erwachen (German Edition)
Autoren: Frank Wedekind
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noch derselbe Angstmeier!
    Der vermummte Herr Das Gespenst hat nicht unrecht. Man soll seine Würde nicht außer acht lassen. – Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind Sollen und Wollen . Das Produkt heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.
    Moritz Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! – Meine Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr. »Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest.« An mir hat sich die Schrift phänomenal blamiert.
    Der vermummte Herr Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern wären sowenig daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis getobt und gewettert haben.
    Melchior Das mag soweit ganz richtig sein. – Ich kann Ihnen aber mit Bestimmtheit sagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine Moral die Schuld trüge.
    Der vermummte Herr Dafür bist du eben nicht Moritz!
    Moritz Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so wesentlich ist – zum mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht auch mir zufällig hätten begegnen dürfen, verehrter Unbekannter, als ich damals, das Pistol in der Tasche, durch die Erlenpflanzungen trabte.
    Der vermummte Herr Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch im letzten Augenblick noch zwischen Tod und Leben. – übrigens ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.
    Moritz Gewiß, es wird kühl, meine Herren! – Man hat mir zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhosen.
    Melchior Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er ist ein Mensch...
    Moritz Laß mich's nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen suchte! Es war alte Anhänglichkeit. – Zeitlebens wollte ich nur klagen und jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal hinausbegleiten könnte!
    Der vermummte Herr Schließlich hat jeder sein Teil – Sie das beruhigende Bewußtsein, nichts zu haben – du den enervierenden Zweifel an allem. – Leben Sie wohl.
    Melchior Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß du mir noch erschienen. Wie manchen frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich verspreche dir, Moritz, mag nun werden, was will, mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein anderer werden, mag es aufwärts oder abwärts mit mir gehn, dich werde ich nie vergessen...
    Moritz Dank, dank, Geliebter.
    Melchior ... und wenn ich einmal ein alter Mann in grauen Haaren bin, dann stehst gerade du mir vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.
    Moritz Ich danke dir. – Glück auf den Weg, meine Herren! – Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.
    Der vermummte Herr Komm, Kind! – Er legt seinen Arm in denjenigen Melchiors und entfernt sich mit ihm über die Gräber hin.
    Moritz allein – Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. – – Der Mond verhüllt sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar gescheiter aus. – – So kehr' ich denn zu meinem Plätzchen zurück, richte mein Kreuz auf, das mir der Tollkopf so rücksichtslos niedergestampft, und wenn alles in Ordnung, leg' ich mich wieder auf den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle...

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